November 1998
Für eine Friedenspolitik ohne Militär

Weichenstellungen auf dem Weg zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur

 von Otfried Nassauer

1993 lancierte der deutsche Verteidigungsminister, Volker Rühe, die Idee einer NATO-Osterweiterung in die Öffentlichkeit. Kurz darauf warnte US-Präsident Clinton: "Warum sollen wir jetzt eine neue Trennline durch Europa ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich? Warum sollten wir jetzt etwas tun, das die bestmögliche Zukunft Europas verbauen könnte?". Im vergangenen Jahr, nur vier Jahre später wurden unter Führung von US-Präsident Clinton Nägel mit Köpfen gemacht: Trotz zum Teil scharfer russischer Proteste - der NATO-Gipfel in Madrid beschloß Verhandlungen über die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik in die westliche Militärallianz. Bis zum nächsten NATO-Gipfel im April 1999 in Washington soll die Aufnahme der ersten neuen Mitglieder erfolgen. Zugleich will die Allianz ihre Erweiterungspolitik überprüfen und nach Aussage der amerikanischen Außenministerin, Madeleine Albright, über eine zweite Erweiterungsrunde entscheiden. 

Die Osterweiterung und ihre Befürworter 

Mit überwältigender Mehrheit hat der amerikanische Senat die Osterweiterung der NATO ratifiziert. Ähnlich war es im Deutschen Bundestag. Doch der Schein der Einmütigkeit trügt. Betrachtet man die Phalanx der Befürworter der NATO-Osterweiterung genauer, so läßt sich unschwer feststellen: Es sind zumindest zwei Gruppen. Und: Betrachtet man ihre Argumente bzw. die Zielvorstellungen, die sie im Hinblick auf die europäische Sicherheitsarchitektur verfolgen, so sind diese höchst widersprüchlich, wenn nicht gar gegenläufig.

Ein Teil der Befürworter will, daß eine erweiterte NATO mit der Hauptaufgabe kollektive Verteidigung gegen ein möglicherweise künftig wieder erstarkendes Rußland organisiert. Sie wollen die Zahl der neuen Mitglieder klein und die NATO handlungsfähig halten. Zugleich soll die Allianz mit Nebenaufgabe fähig sein, andere Bedrohungen, zum Beispiel solche durch proliferierte Massenvernichtungswaffen, glaubwürdig abzuschrecken bzw. zu bekämpfen. Deutlich plädieren die Befürworter dieser Haltung für eine Begrenzung der Zusammenarbeit mit Rußland. Informationsaustausch über Fragen der europäischen Sicherheit und bereits getroffene NATO-Entscheidungen - ja. Gemeinsame Entscheidungsfindung oder gar gemeinsame Entscheidungen und gemeinsames Handeln - nein. Jesse Helms, der konservative Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, steht für diese Position.

 Zugleich gibt es aber auch eine andere Gruppe von Befürwortern der NATO-Osterweiterung: Sie wollen die Allianz erweitern und gleichzeitig kontinuierlich transformieren. Aufgaben kollektiver Sicherheit sollen neben die Aufgabe kollektiver Verteidigung treten. Die NATO soll neben der Verteidigung des Bündnisgebietes zunehmend Aufgaben im Bereich der Friedenserhaltung, Friedenssicherung und Friedenserzwingung wahrnehmen. "Verteidigt" werden sollen neben dem Bündnisterritorium auch die Interessen der NATO-Staaten. Europäische Sicherheit soll durch Konsultationen und in Kooperation mit Rußland gestaltet werden. Letztlich schließen etliche Vertreter dieser Position - und darunter sind auch wichtige Mitglieder der Clinton-Regierung - auch einen künftigen Beitritt Rußlands zur NATO zumindest rhetorisch nicht von vornherein aus. Die Allianz soll - so diese Befürworter - immer mehr zu einer von den Fragestellungen und Aufgaben kooperativer und kollektiver Sicherheit geprägten Organisation werden. Liberale Demokraten in den USA sowie viele Sozialdemokraten und Grüne in der Bundesrepublik folgen dieser Argumentation.

Auffällig ist: Die Befürworter der Osterweiterung haben so gegensätzliche längerfristige Ziele und Vorstellungen über die Zukunft der NATO, daß nur eine der beiden Gruppen ihre Zielvorstellungen wird durchsetzen und erreichen können. Die andere wird sich über kurz oder lang eingestehen müssen, daß sie einer Fata Morgana gefolgt ist und ihre Zustimmung zur Erweiterung des Bündnisses auf Grundlage falscher Annahmen gegeben hat.

Kollektive Verteidigung versus Kollektive Sicherheit

Betrachten wir für einen Moment die grundsätzliche Alternative: Seit dem Ende des Kalten Krieges steht eine Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur an. Diese Aufgabe kann mit zwei - im Weber'schen Sinne - als idealtypisch zu unterscheidenden Zielvorstellungen angegangen werden. Zum einen kann versucht werden, europäische Sicherheit weiterhin nach den Prinzipien eines Systems kollektiver Verteidigung zu gestalten. Zum anderen könnte sie nach den Anforderungen eines Systems kollektiver Sicherheit ausgeplant und realisiert werden. Was wären die wesentlichen Unterschiede?

Zu einem System kollektiver Verteidigung schließt sich eine Gruppe von Staaten freiwillig zusammen, um gemeinsam militärisch Bedrohungen abzuwehren, die sich von außen gegen einen oder alle Beteiligten richten. Die Bedrohungen können militärischer Natur sein und sich gegen das Territorium der Mitglieder des Systems richten. Sie können aber auch - zumindest nach dem Selbstverständnis der NATO - nicht-militärischer Natur sein und sich gegen die Interessen, z.B. Wirtschafts- oder Rohstoffinteressen der Mitglieder der Allianz richten. In Folge dieser Aufgabenstellung sollen Systeme kollektiver Verteidigung Sicherheit gegen Bedrohungen und Risiken schaffen; sie orientieren sich vorrangig an dem Verhalten von Nichtmitgliedern. Zudem erzwingen begrenzte Ressourcen und die Kohärenzproblematik bei der bündnisinternen Entscheidungsfindung, daß Systeme kollektiver Verteidigung tendenziell exklusiv funktionieren. Je mehr Staaten mit von der Partie sind, desto komplizierter könnte es ja werden.

Zu einem System kollektiver Sicherheit dagegen schließt sich eine Gruppe von Staaten freiwillig dann zusammen, wenn es die Absicht aller Beteiligten ist, sich gemeinsam Regeln, d.h. auch Konfliktregelungsmechanismen zu geben, die das Miteinander dieser Staaten gestalten. Nicht die Bedrohung von außen, sondern die gegenseitige Anhaltung zur Regeleinhaltung nach innen ist hier die Hauptaufgabe. All Beteiligten versprechen sich gegenseitig Unterstützung auch militärischer Natur, sollten ein oder mehrere Staaten aus dem vereinbarten Regelwerk ausbrechen. Sicherheit miteinander zu gestalten, lautet hier das Ziel, nicht Sicherheit gegeneinander. Systeme kollektiver Sicherheit funktionieren deshalb tendenziell inklusiv; sie binden das potentielle "Außen" ein. Mehr Sicherheit des anderen bedeutet immer auch mehr eigene Sicherheit.

Während die NATO und die WEU eine lange Tradition als Systeme kollektiver Verteidigung verkörpern, sind die UNO und die OSZE Institutionen, die zu einem globalen bzw. regionalen System kollektiver Sicherheit weiterentwickelt werden könnten. Für beide Institutionstypen gilt: Sie können nur tun und erreichen, was die Mitgliedsstaaten zulassen. Die Aufgabenzuweisung an die beiden Institutionstypen und die Aufgabendurchführung durch diese sagt in der Regel weniger über das dem jeweiligen Institutionstyp innewohnende Potential, Sicherheit zu organisieren, sondern vor allem etwas darüber, wie die beteiligten Staaten Sicherheit organisiert wissen wollen und welcher Institution sie Aufgaben und Ressourcen zuweisen wollen..

Wie gesagt: Die Unterscheidung ist idealtypischer Natur. Sie erlaubt, schwarz und weiß zu beschreiben - unter zwischenzeitlichem Verzicht auf die Schilderung der Grautöne. Und trotzdem ist sie hilfreich bei der Analyse der Debatte über eine Neugestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur seit dem Ende des Kalten Krieges.

Alternativen einer Europäische Sicherheitsarchitektur

Die geschilderten grundsätzlichen Alternativen zwischen Ansätzen, die auf kollektive Verteidigung und solchen, die auf kollektive Sicherheit zielen, sind keineswegs vorrangig theoretischer Natur. Dies zeigt bereits eine einfache Anwendung der Überlegungen auf den Stellenwert des Verhältnisses der NATO zu Rußland.

Wer die europäische Sicherheitsarchitektur der Zukunft auf Basis der Prinzipien kollektiver Verteidigung organisieren will, wird zwangsläufig die NATO als handlungsfähigste Institution kollektiver Verteidigung in das Zentrum seiner Überlegungen stellen. Die Weiterentwicklung der NATO wird als Aufgabe für ihn Priorität haben gegenüber allen anderen Aufgaben, die - Beispiel NATO-Rußland-Verhältnis - nunmehr nach- und zugeordnet werden. Er wird versuchen, die NATO als Militärbündnis in ihrem neuen politischen Umfeld zu legitimieren und zu rechtfertigen, daß sie die Ressourcen benötigt, die sie verbraucht. Er wird ihr gegebenenfalls zusätzliche Aufgaben zuweisen. Er wird die Allianz an diese neuen, zusätzlichen Aufgaben anpassen, dabei aber immer Sorge tragen, daß erstens der Kerncharakter des Bündnisses als Militärallianz nicht aufgegeben wird und zweitens, daß die NATO ihrerseits das wichtigste Kernelement der künftigen Sicherheitsarchitektur wird. Er wird den harten Kern der Sicherheit als militärische Sicherheit definieren und dafür Sorge tragen, daß dieser Kernbereich alleinige Zuständigkeit der Allianz bleibt. Andere Institutionen, seien es die EU oder die OSZE, aber auch die WEU dürfen in dieser Konzeption den Fixstern NATO wie Planeten oder Monde umkreisen, einen Beitrag zu äußeren Rahmenbedingungen von Stabilität leisten. Eigenständige Kernaufgaben aber werden ihnen nicht zugewiesen. Die mit diesem Vorgehen verbundene Dominanz der Gestaltung militärischer Sicherheit wird einkalkuliert bzw. gewollt.

Die Anpassung der NATO an die neue Situation nach dem Ende des Kalten Krieges und ihre Erweiterung um neue Mitglieder ist die Hauptaufgabe einer solchen Politik. Hierfür wird der Großteil politischer Energie und finanzieller Ressourcen aufgewandt. Alle anderen Fragen werden dieser "NATO-First"-Politik unter- und nachgeordnet. Lösungsansätze werden im Blick auf ihre Auswirkungen auf die NATO untersucht. Dies gilt zuallererst für das NATO-Rußland-Verhältnis, aber auch für wesentliche andere Fragen, so z.B. für die Zukunft der nuklearen der konventionellen Rüstungskontrolle (KSE-2) in Europa oder für Politikansätze zur Lösung der Balkankrisen.

Wer dagegen die Zukunft europäischer Sicherheit nach den grundlegenden Prinzipien kollektiver Sicherheit organisieren will, der wird ganz andere Prioritäten setzen. Hier wird die gemeinsame Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch alle Beteiligten im Vordergrund stehen. Dies bedeutet vor allem die Einbeziehung Rußlands in alle wesentlichen Beratungs- und Entscheidungsprozesse, die Maximierung der Möglichkeiten zu Konsultation und Kooperation. Die Gestaltung der Beziehungen zwischen NATO und Rußland steht damit im Vordergrund der politischen Bemühungen und finanziellen Aufwendungen. Hinzu kommt die weitere Ausgestaltung der OSZE und eine Stärkung der Vereinten Nationen, wo immer dies möglich erscheint. Bei dieser Zielsetzung werden Lösungsmöglichkeiten für die Fragen konventioneller und nuklearer Rüstungskontrolle, für die Balkankrisen und vor allem die eigene Politik in Fragen NATO-Osterweiterung zunächst auf ihre Auswirkungen auf die Kooperationsmöglichkeiten mit Rußland untersucht und entsprechend gewichtet.

Klar wird: Im Kern der westlichen Politik zur Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur steht seit Jahren – spätestens seit 1993 – das erste Modell. "NATO-First" lautet die unausgesprochene Leitlinie der sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa. Impliziert wird damit, daß die Entwicklung von "Kollektive Verteidigung First" und nicht "Kollektive Sicherheit First" geprägt wurde.

Historisch betrachtet ließe sich Ähnliches für alle wesentlichen Debatten über die Zukunft europäischer Sicherheit seit 1990 nachzeichnen, so zum Beispiel für die Diskussionen über

* die Zukunft von OSZE und NATO zu Beginn der neunziger Jahre

* Friedensmissionen und die Erweiterung der NATO-Aufgaben

* die geographische Ausdehnung der NATO.

Selbst an der ausschließlich innerwestlichen Kontroverse um Aufgabe, Funktion und Ausgestaltung der Combined Joint Task Forces  (hinter der ja letztlich die Frage nach den eigenständigem militärischen Handlungsmöglichkeiten der (W)EU-Staaten steht) könnten parallele Beobachtungen getroffen werden.

Die Bedeutung des NATO-Rußland Verhältnisses

Zwar steht die "NATO-First"-Politik und damit die Osterweiterung des Bündnisses sowie dessen Umbau im Zentrum offizieller Politik. Zugleich aber wird sie nicht bis in alle Konsequenzen durchgehalten. Dies wäre auch kontraproduktiv, würde doch eine klare und ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführte Orientierung der Politik der Weiterentwicklung der NATO an den Prinzipien kollektiver Verteidigung Rußland schon heute von der weiteren Entwicklung ausschließen und offen in eine erneute Phase der Konfrontation treiben müssen. Alle Bekenntnisse zu einer Stärkung der Demokratisierung in Rußland würden sich dann als pure Lippenbekenntnisse einer ansonsten rücksichtslosen Machtpolitik erweisen. Eine solche Politik wird von den NATO-Staaten demzufolge auch nicht praktiziert.

Vielmehr wird die NATO-First-Politik von einer zweiten Entwicklungslinie begleitet. Kooperation mit Rußland wird gesucht, eine Entfremdung Rußlands soll vermieden werden. Die Entwicklung Rußlands hin zu Demokratie und Marktwirtschaft soll auf diese Weise gestützt werden. Rußland soll vermittelt werden, daß die Osterweiterung der Allianz "Stabilität projiziert". Dies sei im Sinne Rußlands. Neue Trennlinien in Europa, so das immer wieder verwendete Argument, wolle niemand. Für die Mitarbeit Rußlands im Programm Partnerschaft für den Frieden wurde deshalb lange geworben. Schließlich wurde Rußland ein Sonderverhältnis zur NATO offeriert, institutionalisierte Konsultationen zu allen wesentlichen Fragen europäischer Sicherheit im Format 16+1. Die politisch, nicht aber rechtlich bindende Grundakte NATO-Rußland ist der deutlichste Ausdruck dieser Politik.

Das NATO-Rußland-Verhältnis wird damit ambivalent gestaltet: Zum einen wird der Russischen Föderation Konsultation und Kooperation angeboten, zum anderen werden - trotz aller russischen Proteste - die Pläne für weitere Osterweiterungen der NATO fortgeschrieben und weiterverfolgt. Daß Letzteres dem Ersten den Boden entziehen kann, wird billigend in Kauf genommen. Rußland wird unter dem Risiko weiterer NATO-Ausdehnung gehalten,  hätte aber zugleich den "Schwarzen Peter", würde es die angebotene Kooperation verweigern. Mit diesem Vorgehen entzieht sich westliche Politik einer wesentlichen Frage: Was ist das Ziel der NATO-Osterweiterung? Wieviele Staaten sollen dem Bündnis künftig noch beitreten? Sollen die Staaten des Baltikums Mitglied werden? Republiken der GUS wie z.B. die Ukraine?  Oder gar Rußland selbst? Die NATO und die Befürworter der Osterweiterung haben keine gemeinsame Antwort auf diese Frage. Sie kann und soll derzeit nicht beantwortet werden.

Trotzdem wird mit dieser Entwicklungslinie zweierlei deutlich. Zum einen die Anerkenntnis der Tatsache, daß Sicherheit in Europa nicht ohne Rußland gestaltet werden kann - gleichgültig ob man sie gegen oder mit Rußland gestalten will. Zweitens werden solche Initiativen vor allem von jenen Befürwortern der NATO-Osterweiterung getragen, die die Transformation der NATO zu einer Institution mit Aufgaben kooperativer Sicherheit und kollektiver Verteidigung vorantreiben wollen. Sie anerkennen indirekt: Für die Zukunft europäischer Sicherheit ist das NATO-Rußland-Verhältnis der Knackpunkt. An ihm wird sich entscheiden, ob europäische Sicherheit  konfrontativ oder kooperativ gestaltet werden wird. Die Politik der NATO-Osterweiterung ist dagegen von nachrangiger Bedeutung. Diese Entscheidung über den Charakter und das Gewicht der Beziehungen zwischen der NATO und Rußland steht nicht in grauer Zukunft an, sondern wird mit jedem neuen aktuellen politischen Schritt heute vorbereitet.

Damit entsteht eine partielle Öffnung der Situation: Das Sonderverhältnis NATO-Rußland, wie in der Grundakte NATO-Rußland beschrieben, kann genutzt werden, der Politik des "Kollektive Verteidigung First" und des "NATO First" substantielle Elemente kooperativer und kollektiver Sicherheit entgegenzusetzen. Kooperatives Herangehen an weitere Schritte der Abrüstung und Rüstungskontrolle können diese Chance verstärken; NATO-Rußland Kooperation verstärkt ihrerseits die Chancen zu weiterer Abrüstung.

Die Grundakte erlaubt sicherheitspolitische Konsultation und Kooperation in allen Fragen, außer im engeren Bereich der kollektiven Verteidigung selbst. Sie deckt damit vor allem jene Bereiche ab, in denen in den kommenden Jahren wirklich wichtige Entscheidungen anstehen: Die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur, die Zukunft der konventionellen und nuklearen Rüstungskontrolle sowie Krisen und deren Management. Sie deklariert ein Maximum an Zusammenarbeit politisch bindend zum Ziel. Damit offeriert sie Chancen und Einfallstore für die Stärkung kooperativer und kollektiver Sicherheit sowie für die erforderliche Vertrauensbildung.

Entscheidend wird deshalb sein, wie die in der Grundakte angelegten Kooperationsmöglichkeiten genutzt und in Taten umgesetzt werden. Setzen sich in der Praxis Politiker wie Jesse Helms durch, die der NATO nur zu den Themen Konsultationen mit Rußland zubilligen wollen, zu denen in der Allianz zuvor eine einheitliche Position erarbeitet wurde, so werden die Möglichkeiten der Grundakte kaum genutzt. Chancen zur Kooperation - wie zum Beispiel im Blick auf das Krisenmanagement im Kosovo/Kosova werden dann vertan; solche Krisen sogar möglicherweise verschärft. Setzt sich dagegen die Einsicht durch, daß Kooperation nicht nur wünschenswert und möglich ist, sondern auch substantieller Ressourcen bedarf, so stehen die Chancen viel besser.

Die Weichen werden in den kommenden zwei oder drei Jahren gestellt. In dieser Zeit stehen wichtige Entscheidungen an:

* Im NATO-Rußland-Rat wird sich zeigen, wie ernsthaft und in welchem Umfang Rußland in die Gestaltung europäischer Sicherheit eingebunden werden soll und kann.

* Im Rahmen der Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung wird sich zeigen, ob ein rüstungskontrollpolitischer Konsens über konventionelle Streitkräfte auf deutlich niedrigerem Niveau gefunden werden kann, der die Veränderungen der politisch-geographischen Lage in Europa reflektiert und die veränderten Sicherheitsbedürfnisse der Staaten Europas berücksichtigt.

* Auch bei der nuklearen Abrüstung entscheidet sich der Weg in die Zukunft. Gewinnen Nuklearwaffen wieder an Bedeutung oder gelingt es - auch für Europa - zu weiteren Reduzierungen oder gar einer Eliminierung zu kommen? Von der Entscheidung, ob weiter nuklear abgerüstet wird kann  - ich erinnere an die jüngsten Atomtest - zudem die Zukunft des nuklearen Nichtverbreitungsregimes abhängen.

* Zwischen Rußland und der Europäischen Union wird darüber hinaus zu entscheiden sein, ob es gelingt eine signifikante Stärkung nicht-militärischer Elemente der Sicherheit in Europa zu erreichen.

Für Friedensforschung und Friedensbewegung stellt sich damit die Aufgabe, auf die Nutzung der bestehenden Chancen zu drängen und dafür zu werben, daß seitens der NATO, der EU und Rußlands von ihnen Gebrauch gemacht wird und die erforderlichen Mittel bereitgestellt werden. Ich will hier nur einige wichtige Beispiele nennen und jeweils einige der möglichen positiven Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen:

1. Das NATO-Rußland-Verhältnis und der Ständige Gemeinsame Rat

Der Kern positiver Einfluß- und Gestaltungsmöglichkeiten liegt im NATO-Rußland-Verhältnis. Innerhalb dessen wiederum geht es vor allem um den Ständigen Gemeinsamen Rat. In diesem Gremium, das durch die Grundakte geschaffen wurde, treffen sich die NATO-Staaten und Rußland im gleichen Rhythmus wie der Nordatlantikrat, das wichtigste Entscheidungsgremium der NATO. Einmal im Monat wird auf Botschafterebene diskutiert, zweimal im Jahr auf Ebene der Verteidigungs- und Außenminister. Hinzu kommen Treffen der obersten militärischen Ebene. Damit spiegelt der SGR die wesentlichen Entscheidungsstrukturen der NATO. Die Möglichkeit zum Aufbau eines organisatorischen und fachlichen Unterbaues, von Expertengruppen und Fachkonsultationen ist gegeben.

Die in der Grundakte und in den Arbeitsplänen 1997 und 1998 vorgesehenen Themen für die Arbeit des SGR machen deutlich: Der Ständige Gemeinsame Rat kann im Grundsatz genutzt werden, um alle Themen von gemeinsamem Interesse zu diskutieren und Kooperationen für eine Vielzahl von Bereichen zu vereinbaren. Lediglich der engere Bereich der kollektiven Verteidigung der NATO ist ausgeschlossen. Je besser aber die Zusammenarbeit im NATO-Rußland-Rat funktioniert, desto geringer ist die tatsächliche Bedeutung dieser Beschränkung.

Entscheidend wird es deshalb sein, ob ein organisatorischer Unterbau geschaffen wird, der Entscheidungen und gemeinsames Vorgehen vorbereitet. Dies erfordert die Bereitstellung von Ressourcen und hat den politischen Willen der Beteiligten zu Kooperation zur Voraussetzung. Kooperation kostet Geld. Der NATO-Rußland-Rat benötigt einen arbeitsfähigen und substantiellen Unterbau. Es gilt, die beteiligten Staaten von der Notwendigkeit dieser Ausgaben zu überzeugen. Rußland muß - für eine Übergangszeit - dabei notfalls materiell unterstützt werden. Nur, wenn der Ausbau kooperativer Strukturen zu einer zentralen Priorität gemacht wird, besteht die Chance, leisten zu können, was geleistet werden soll.

Erforderlich ist zudem, die unterschiedlichen strategischen Denkkulturen in Rußland und in den USA bzw. der NATO zu berücksichtigen. Während für das russische Denken sich der ernsthafte Wille zur Kooperation darin beweist, daß zunächst die großen konzeptionellen Fragen europäischer Sicherheit einer gemeinsamen Herangehensweise zugeführt werden, um sie dann auf praktische Fragen herunterzubrechen, ist der amerikanische bzw. NATO-Ansatz umgekehrt. Hier konzentrieren sich ernsthafte Bemühungen um Kooperation zunächst auf Erfolge bei kleinen, praktischen und pragmatisch zu lösenden Fragen, um nach positiver Erfahrung zu komplexeren Problemen vorzustoßen. Die längerfristige Zielsetzung kann je nach Art und Geschwindigkeit des Fortschritts jederzeit angepaßt werden. Das Russische Herangehen kann als "top-down" und das westliche als "bottom up" bezeichnet werden. Erfolgreiche Kooperation erfordert die Anerkenntnis dieses Unterschiedes in den strategischen Denkkulturen und den Verzicht auf "kulturellen Imperialismus", z.B. bei der Gestaltung von Tagesordnungen und Arbeitsplänen. Nur, wenn die für Rußland bedeutsamen Themen und Fragestellungen dort repräsentiert sind und mit der erforderlichen Intensität bearbeitet werden, wird ein Klima wirklicher Kooperation entstehen können.

Ein solches Klima kann nur langsam entstehen, es bedarf der Vertrauensbildung. Der Druck, der von westlichen Plänen zu weiteren Schritten der NATO-Osterweiterung ausgeht, ist kontraproduktiv. Wie soll auf russischer Seite Vertrauen in den ernsthaften Kooperationswillen der NATO-Staaten entstehen, wenn die Rußland befürchten muß, daß noch auf Jahre von einer sukzessive erfolgenden Ausdehnung der NATO auszugehen ist und deren Ende nicht abzusehen ist? Nach den Madrider Beschlüssen zur Erweiterung der NATO, beeilten sich die USA, anzukündigen, nunmehr habe der Ausbau der Beziehungen zwischen der NATO und Rußland Vorrang. Mit dem Washingtoner Gipfel 1999 aber droht bereits eine erneute Umkehr der Vorzeichen und damit eine erneute, noch ernsthaftere Belastung der NATO-Rußlandbeziehungen.

Im NATO-Rußland-Rat gilt es, möglichst schnell ein gemeinsames Verständnis für das Verhältnis zwischen NATO-Rußland-Beziehungen und NATO-Osterweiterung herzustellen. Dabei kann es kaum darum gehen, in Fortschreibung bisheriger westlicher Politik lediglich darauf zu zielen, daß Rußland die Entscheidungen der NATO hinnimmt ohne die Kooperation mit der NATO gänzlich abzubrechen. Vielmehr muß es zu einer Lösung kommen, bei der es der NATO entweder gelingt, Rußland davon zu überzeugen, daß die Erweiterung des westlichen Bündnisses im eigenen wohlverstandenen russischen Interesse ist. Dies kann im Kern nur gelingen, wenn die NATO Rußland eine ernsthafte Beitrittsperspektive eröffnet. Oder es muß zu einer Lösung kommen, bei der die NATO auf eine weitere Ausdehnung verzichtet und so den Vorrang der NATO-Rußland-Beziehungen sichtbar macht.

2. Die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle

Die nukleare Abrüstung ist ins Stocken geraten, steht vor einer Wegscheide. Stillstand oder neuer substantieller Fortschritt lautet die Alternative. Die Zukunft in dieser Frage ist eng mit dem NATO-Rußland-Verhältnis verbunden.

START-II wurde in Rußland bislang nicht ratifiziert; ob und wann dies geschehen wird, ist unsicher. Ein START-III-Abkommen ist zwar angedacht und in seinen Grundzügen politisch vereinbart, aber von der russischen Ratifizierung von START-II abhängig gemacht worden. Auch beim weiteren Abbau taktisch-atomarer Waffen, durch politisch bindende, einseitige Zusagen der Präsidenten Bush und Jelzin 1991 angekündigt, gibt es Probleme. Ein Durchbruch zu weitergehenden Vereinbarungen ist noch nicht in Sicht. Im Gegenteil: In Rußland werden jene Stimmen stärker, die angesichts von NATO-Osterweiterung und westlicher konventioneller Überlegenheit für einen Rückgriff auf Nuklearwaffen plädieren. Nuklearwaffen werden als Mittel gesehen, die militärische und politische Balance relativ kostengünstig abzusichern.

Auch hier bieten die in der Grundakte NATO-Rußland angelegten Möglichkeiten eine Chance: Dort sind Konsultationen über Nuklearwaffen, Nuklearstrategie und nukleare Rüstungskontrolle vereinbart worden. Der Ständige Gemeinsame Rat hat diese Themen bereits aufgegriffen und zudem eine Expertengruppe eingerichtet. Die ersten Diskussionen haben gezeigt, daß noch viel vertrauensbildende Arbeit zu leisten ist, bevor mit offenen Debatten oder substantiellen Ergebnissen zu rechnen ist.

Die dem NATO-Rußland-Prozeß inhärenten Möglichkeiten zu nuklearer Abrüstung müssen genutzt werden. Durch Gespräche im Ständigen Gemeinsamen Rat können zwei weitere Schritte nuklearer Abrüstung in sinnvoller Weise vorbereitet werden.

Zum ersten eine Einbeziehung der taktisch-nuklearen bzw. sub-strategischen Nuklelarwaffen in die vertraglich vereinbarte atomare Abrüstung. Beide Seiten müssen objektiv an einem solchen Schritt Interesse haben. Rußland, weil zum einen substantielle Kosten für die Aufrechterhaltung und später Modernisierung der eigenen Atomwaffen entfallen könnten und zum anderen, weil mit einem solchen Abkommen der lange gehegte russische Wunsch nach Begrenzung oder Eliminierung der amerikanischen Atomwaffen in Europa sowie der seegestützten Marschflugkörper in Erfüllung gehen könnte. Der Westen, weil die zur Zeit nur politisch zugesagte Eliminierung des Großteils der russischen, taktischen Atomwaffen zu einer rechtlich bindenden Verpflichtung würde und zudem die Frage der umstrittenen Vereinbarkeit von nuklearer Teilhabe der NATO mit den Verpflichtungen aus den Artikeln I und II des NPT ausgeräumt werden könnte. Beide gemeinsam müssen das Interesse haben, vermittels nuklearer Abrüstung zu verhindern, daß auch nach den atomaren Tests in Südasien ein Aufbrechen und vollständiges Scheitern des Nichtverbreitungsregimes verhindert wird.

Im NATO-Rußland-Rat kann sondiert werden, wie der nächste Schritt nuklearer Abrüstung am besten so gestaltet werden kann, daß er im Interesse aller Beteiligten liegt. Soll neben START III ein gesondertes Abkommen über die Reduzierung oder Eliminierung nicht-strategischer Atomwaffen treten? Oder soll die Einbeziehung dieser Waffen durch Anrechnung auf die unter künftigen START-Abkommen geltenden Obergrenzen für atomare Sprengköpfe geschehen? Zudem könnte diskutiert werden, ob es möglich ist, in der für START-II und START-III vorgesehenen Zeitplanung  - also bis 2007 - zugleich den nächsten avisierten Schritt zu gehen. In den USA wird bereits an Konzepten für ein START-IV Abkommen gearbeitet, in dessen Kontext jede Seite auf 1000 - 1500 Sprengköpfe abrüsten soll. Kann dies bis Ende 2007 realisiert werden?

Darüber hinaus böte der Diskussionsprozeß im SGR folgende Optionen, auf deren Nutzung gedrängt werden muß: Erstmals sitzen vier der erklärten Nuklearmächte an einem Tisch. Sie sollten gemeinsam über die künftige Rolle, Funktion und Strategie für ihre Nuklearwaffen diskutieren. Wie wird der Übergang zu einer Strategie der Minimal-Abschreckung oder gar der existentiellen Abschreckung gestaltet? Welche nuklearen Potentiale werden für die Zeit nach einem solchen Übergang noch für erforderlich gehalten? Wie kann die Einbeziehung der kleineren Nuklearmächte in den Rüstungskontrollprozeß der beiden Großen bewerkstelligt werden? Wann sollte oder kann dies stattfinden? Welche Aussagen werden in der künftigen NATO-Strategie und in der künftigen Militärdoktrin Rußlands über Nuklearwaffen stehen?

Gemeinsame Konsultationen zu diesen Fragen können nicht nur eine erhebliche vertrauensbildende Wirkung haben. Sie können auch mehr und schnelleren Fortschritt beim Abbau der heute noch existenten Atomwaffenpotentiale zulassen, als derzeit für die meisten Beteiligten schon vorstellbar. Und vielleicht ergibt sich aus solchen Konsultationen auch die einzig vielversprechende Reaktion auf die Nukleartests in Südasien: Beschleunigte nukleare Abrüstung der etablierten Nuklearmächte scheint mir die einzig erfolgversprechende Möglichkeit zu sein, einen nuklearen Rüstungswettlauf in der Region und einen Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes auf längere Sicht zu verhindern.

3. Die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle

Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) kann als letztes Kind des Kalten Krieges betrachtet werden. Er legt gleiche Obergrenzen für wichtige Großwaffensysteme fest, die die Staaten des Warschauer Paktes und der NATO künftig nicht mehr überschreiten sollten. Schon zur Unterzeichnung des Vertrages war eine seiner wichtigsten Voraussetzungen entfallen, die Existenz zweier Militärbündnisse in Europa. Der Warschauer Pakt hatte sich aufgelöst. In letzter Minute wurde deshalb der Vertragstext angepaßt - nunmehr ist von Staatengruppen die Rede, die aber weiterhin mit Warschauer Pakt und NATO identisch sind.

Heute kann der Vertrag als von der Wirklichkeit überholt gelten. Er bedarf dringend der Anpassung an die neuen Realitäten. Nicht nur der Warschauer Pakt ist aufgelöst, sondern auch die Sowjetunion. Mehrere ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes werden der NATO beitreten, andere wollen dies. Kaum einer der Vertragsstaaten kann sich heute noch jene Rüstungspotentiale leisten, die ihm der Vertrag zugesteht.

Seit mehr als einem Jahr wird über eine Anpassung des KSE-Vertrages in Wien verhandelt. Dies muß geschehen, weil das alte Vertragsregime bei einem Wechsel von Mitgliedern der östlichen in die westliche Gruppe der Vertragsstaaten nicht einfach weiter gelten kann. Die Vorschläge, die dort zumeist von der NATO auf den Tisch gelegt wurden, haben Zwist hervorgerufen. Rußland befürchtet vor allem, mit diesen Vorschlägen wolle sich die NATO die Möglichkeit schaffen, starke Verbände überraschend an Orten ihrer Wahl zu konzentrieren und damit die Fähigkeit zu begrenzten Überraschungsangriffen herbeizuführen. Die NATO-Staaten, vor allem die USA,  wollen sich jedoch nicht der rechtlichen Möglichkeit begeben, in jedes Mitgliedsland des Bündnisses jederzeit Verstärkungsverbände zu entsenden. Die Flexibilität des Bündnisses und der USA, auch im Hinblick auf das Management von Krisen außerhalb des NATO-Gebietes, soll nicht eingeschränkt werden. Rußland hat dieses Vorgehen mittlerweile mit eigenen Vorschlägen konterkariert, die der Russischen Föderation erhöhte Handlungsfreiheit und Flexibilität bescheren würden, vor allem durch Aufhebung vieler Einschränkungen aus der sogenannten Flankenregelung. Damit wird indirekt die Weiterexistenz des Vertrages in Frage gestellt, da insbesondere an der Südflanke des Vertragsgebietes, von der Türkei bis in die Kaukasus-Region unauflösliche Interessenswidersprüche drohen.

Auch hier bietet sich im Rahmen des NATO-Rußland-Rates und des Euroatlantischen Partnerschaftsrates und der OSZE die Möglichkeit, wichtige Vorarbeiten für kooperative Lösungen zu erledigen. Zur Zeit wird in Wien auf Basis von westlichen Vorschlag unter anderem über eine weitere Absenkung der erlaubten Rüstungsbestände verhandelt. Echte Abrüstung würde aber mit den vorliegenden Vorschlägen kaum erreicht. Die diskutierten neuen Obergrenzen liegen in den meisten Fällen deutlich über den heute noch vorhandenen Beständen. Flugzeuge und Kampfhubschrauber werden nur von Teilen der vorgeschlagenen Regelungen erfaßt.

Im NATO-Rußland-Rat bietet sich die Möglichkeit, wesentliche Vorarbeiten für eine deutlich weitergehende Abrüstungsverpflichtung zu leisten. Die Absenkung der künftig erlaubten Obergrenzen bei allen erfaßten Waffenkategorien deutlich unter die für die Zukunft geplanten nationalen Bestände kann hier vordiskutiert werden. Hier kann auch untersucht werden, wie die russischen Befürchtungen im Hinblick auf die westlichen Vorstellungen zu Verstärkungsmöglichkeiten sinnvoll berücksichtigt werden können. Begrenzungen für den Umfang solcher Verstärkungen und politische Voraussetzungen für ihre Zulässigkeit können gemeinsam gesucht werden.

Und nicht zuletzt kann auch geprüft werden, ob die Rüstungspotentiale in den Vertragsstaaten bei Anwendung des Konzeptes der "hinlänglichen Verteidigungsfähigkeit" - ein Vorschlag des Westens aus den achtziger Jahren - weiter abgesenkt werden könnten und inwieweit ein solches Konzept geeignet wäre, zu insgesamt deutlich unter den heute vorhandenen Ist-Beständen liegenden, niedrigeren künftigen Obergrenzen zu kommen. Der jährliche Austausch von Daten zur Verteidigungsplanung unter den OSZE-Staaten kann dabei Hilfestellung geben.

Im Euroatlantischen Partnerschaftsrat und in der OSZE könnten die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse von NATO und Rußland dann konsultiert werden und auf ihre Umsetzbarkeit im Kreise aller KSE-Mitgliedsstaaten überprüft werden.

Mit einer Einigung auf einen neuen KSE-Vertrag, in dem der neuen politischen Geographie Europas Rechnung getragen wird und deutlich niedrigere Obergrenzen für die künftigen Rüstungspotentiale festgeschrieben werden, können nicht nur erhebliche Entlastungen der Haushalte, sondern auch wesentliche Erleichterungen auf dem Wege zu nuklearer Abrüstung erreicht werden. In Rußland sehen viele in der unumstrittenen konventionellen Überlegenheit des Westens einen wesentlichen Grund dafür, daß Nuklearwaffen weiter nötig seien.

4. Das EU-Rußland-Verhältnis

Seit dem EU-Gipfel von Korsika ist vorgesehen, einen EU-Rußland-Rat einzurichten. Nach Jahren des Schneewittchen-Schlafes wurde das Vorhaben kürzlich reanimiert. Ein solcher Rat beinhaltet die große Chance, zwei Ziele zu verfolgen, die im NATO-Rußland-Rat kaum verfolgt werden dürften:

Der EU-Rußland-Rat kann zum einen genutzt werden, um die Ausgestaltung politischer und wirtschaftlicher, d.h. vorrangig nicht-militärischer Elemente europäischer Sicherheit und Stabilität voranzutreiben und zu entwickeln. Damit kann er zu einem ernstzunehmenden Gegengewicht zum NATO-Rußland-Rat entwickelt werden. Entscheidend dafür, ob eine solche Entwicklung gelingt, sind der politische Wille der Beteiligten, die Ressourcen, die sie investieren und die Ernsthaftigkeit mit der sie auf gemeinsame Entscheidungsvorbereitung und -findung zielen. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit mit diesem Ziel sind grundsätzlich günstiger als im Falle des NATO-Rußland-Rates, da in Rußland deutlich geringere Widerstände gegen eine enge Zusammenarbeit mit der EU existieren als gegen eine solche mit der NATO. Dies gilt, obwohl auch die EU ihre Osterweiterung plant.

Die zweite Chance für einen EU-Rußland-Rat liegt im systematischen Ausbau guter Rahmenbedingungen für technologische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die deutsche Präsidentschaft in der EU ist der späteste Zeitpunkt für eine entsprechende Initiative. Viele EU-Staaten, darunter die Bundesrepublik und Frankreich, dürften an einer solchen Entwicklung ein ernsthaften Interesse haben.

Schlußbemerkung

Die wichtigen Problemfelder bei Entwicklung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur stehen in einem engem Zusammenhang. Für ihre Lösung können kooperativere Formen und Wege genutzt werden, als dies heute geschieht. Sie müssen genutzt werden, wenn die Gefahr, daß Europa auch im 21. Jahrhundert von konfrontativ geprägten Sicherheitsstrukturen geprägt sein wird, gebannt werden soll. Ob dies passiert, ist eine Frage des politischen Willens der beteiligten Staaten, vor allem der westlichen Industrienationen, die der NATO angehören. Für sie hat sich seit Ende des Kalten Krieges eine ungleich günstigere Ausgangslage entwickelt. Eine militärische Bedrohung, die die staatliche Existenz der NATO-Mitglieder infragestellen könnte, ist auf absehbare Zukunft nicht vorstellbar. Zu groß ist die militärische Überlegenheit des westlichen Bündnisses. Gerade deshalb aber bieten sich den Staaten der NATO erhebliche Möglichkeiten, einem derzeit schwachen Rußland bei der Wahrung seiner Sicherheitsinteressen entgegenzukommen, ohne selbst ein unkalkulierbares Risiko einzugehen. Noch besteht die Möglichkeit, eine Trendwende einzuleiten und auf eine Stärkung der kooperativen und kollektiven Sicherheitsstrukturen in Europa hinzuarbeiten. Dies erfordert eine Schwerpunktverlagerung bei der Arbeit an künftigen europäischen Sicherheitsstrukturen. Der Vorrang der kooperativen Ausgestaltung des NATO-Rußland-Verhältnisses muß anerkannt und in praktisches Handeln umgesetzt werden. Dafür bleibt - angesichts der schon bald beginnenden Diskussion über weitere Schritte der NATO-Osterweiterung - nicht allzuviel Zeit. Friedensforschung und Friedensbewegung können einen wesentlichen Beitrag leisten, indem sie die Vorteile eines solchen Ansatzes aufzeigen.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Dort wird mit Unterstützung der Ford-Stiftung ein internationales Projekt zur Zukunft der NATO-Rußland-Beziehungen durchgeführt.