29. März 2003
Evangelischen Akademie, Bad Boll

 

NATO und EU im Kielwasser der Bush-Doktrin?

von Otfried Nassauer

 

1. Einleitung

Die deutsche Sicherheitspolitik hat nach dem zweiten Weltkrieg – teils gezwungenermaßen – im Kern die folgenden Lehren gezogen:

  1. Angriffskriege sind abzulehnen. Für sie gibt es keine Legitimation.
  2. Wenn die Deutschen ein nationales Interesse haben, dann müssen sie es über multinationale bzw. multilaterale Institutionen vertreten werden, sprich über die NATO, die EU, die Vereinten Nationen oder die OSZE.
  3. Nicht nur für die Bundesrepublik, sondern, wie der Suezkanal-Konflikt 1956 zeigte, auch für Großbritannien und Frankreich als europäische Siegermächte galt ab jetzt: Kein geopolitisches, sondern regionales sicherheitspolitisches Engagement. Konzentration auf die Sicherheit Europas. Der Rest der Welt ist Angelegenheit der USA.
  4. Die Herrschaft des Rechts gilt, das internationale Recht ist zu beachten, so wie es durch Institutionen wie die Vereinten Nationen etc. vorgegeben ist und weiterentwickelt wird.

Alle vier genannten Orientierungspunkte sind wesentlich von den USA mitgestaltet worden. Sie finden sich zum Teil sogar in internationalen Dokumenten, wie z.B. im NATO-Vertrag. Dieser bezieht sich auf die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und enthält mit Artikel 6 eine geographische Begrenzung, die dem amerikanischen Interesse entsprach, nicht in Kolonial-Abenteuer Großbritanniens, Frankreichs oder gar Belgiens hineingezogen zu werden. Die "Gültigkeit des Rechts", "The Rule of Law" fehlte nie, wenn von der NATO als Wertegemeinschaft die Rede war. Das Verbot der Vorbereitung von Angriffskriegen fand Eingang ins deutsche Grundgesetz.

Was sind die Anforderungen Washingtons an das Europa der Gegenwart?

  1. Europa soll sich an einer - auch militärisch - proaktiven Sicherheitspolitik der USA unterstützend beteiligen. Wie schon in der Vergangenheit, werden die Ergebnisse nationaler strategischer Veränderungen in den USA zur Übernahme in Europa vorgelegt, die NATO wird aufgefordert, ihre Strategie der veränderten amerikanischen anzupassen. Aktuell heißt dies: Die NATO steht vor der Frage, Prävention und Präemption, präventive und präemptive militärische Schläge bzw. Interventionen in ihre Strategie zu übernehmen. (Anmerkung: In der US-Debatte wurde lange meist der Begriff der "preemption" genutzt, der beides umfaßte. Erst in jüngster Zeit wird differenziert).
  2. Multilateralismus ist kein Prinzip oder Wert an sich. Multilateralismus wird in Washington jetzt als Multilateralismus a la carté verstanden. In und über multilaterale Organisationen kann agiert werden, wenn dies ein Weg der Durchsetzung nationaler Interessen ist. Wenn andere Washingtons Interessen teilen oder zumindest mit durchzusetzen willens sind, dann kann multilateral gehandelt werden. Ist dies nicht der Fall, so sollte unlateral agiert werden, die multilateralen Institutionen sollten an den Rand gestellt werden. Der Multilateralismus verliert also in vielen entscheidenden Fällen seine Funktion, den Interessensausgleichs zwischen unterschiedlich starken Staaten zu ermöglichen. Multilaterale Institutionen können noch Orte der politischen Entscheidung sein, wenn die Entscheidungen im Interesse der USA liegen, sie müssen es aber nicht, denn sie können auch zu Orten der Konsultation reduziert werden.
  3. Europa soll sich global in Unterstützung der USA militärisch engagieren.
  4. Die Gültigkeit des Rechts, the "rule of law" gilt nur dann, wenn dies der Durchsetzung nationaler Interessen nicht entscheidend entgegensteht. Anderenfalls darf internationales Recht gebrochen oder "freundlicher" der Anspruch erhoben werden, es "weiterzuentwickeln".

Kurz und gut: Diese Anforderungen stellen jeweils in etwa das Gegenteil dessen dar, was während des Kalten Kriegs die amerikanischen Anforderung an Europa war. Binnen zehn Jahren wird Europa aus Washington zu einem sicherheitspolitischen Wertewandel aufgefordert, der drastischer kaum sein könnte. Ich formuliere dies ganz bewusst so deutlich, weil ich in einem zweiten Schritt die Charakteristika der Außenpolitik der Bush-Administration oder – wie es in diesem Seminar heißt - derBush-Doktrin - kurz skizzieren will, und viele dieser Fragestellungen dabei erneut auftauchen.

 

2. Charakteristika der Außen- und Sicherheitspolitik der Bush-Administration

Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bush-Administration zielt auf eine deutliche Flexibilisierung der amerikanischen Handlungsmöglichkeiten zwecks Durchsetzung nationaler amerikanischer Interessen, wo immer dies geraten erscheint. Dies heißt in vielen Fällen: Stärkung des Rechts des Stärkeren, verstärkter Rückgriff auf naturrechtliche Vorstellungen, die als Ersatz für völkerrechtliche Vorstellungen fungieren können, und primäre Orientierung an den eigenen nationalen Interessen und auf eine an diesen auszurichtende, neu zu gestaltende Weltordnung. Ideologisch überhöht und begründet werden solche Vorstellungen vor allem in den neokonservativen republikanischen Kreisen durch extensive Debatten über die Notwendigkeit, dass die USA sich ihrer alleinigen Supermachtrolle, in der sie derzeit und auf absehbare Zeit nicht herausgefordert werden können, erst noch bewusst werden und woraus sie erst noch die Konsequenzen ziehen müssen. Bewusst werden Vergleiche zum alten Rom gezogen, wird eine Diskussion über Imperien geführt und ernsthaft die Frage aufgeworfen, ob die USA ihre Politik nicht offen als imperialistisch bezeichnen sollten, weil sie sich ihrer überlegenen Macht bewusst geworden sind und nun auch die Bereitschaft entwickelt haben, diese einzusetzen. Gerne wird argumentiert, das Verhältnis der Staaten untereinander sei anarchisch und derhalben nur über den Gebrauch des Rechts des Stärkeren zu regeln. Religiöse Verbrämung unter Zuhilfenahme von Bildern und Argumenten, die Auserwähltsein und Sendungsbewusstsein signalisieren, kommen häufig hinzu.

Die gewünschte Flexibilisierung bei der Ausübung von Macht zur Gestaltung von Weltordnung wird durch eine Deregulierung der internationalen Beziehungen erreicht. Diese hat verschiedene Dimensionen:

  1. Die Deregulierung der internationalen Beziehungen drückt sich in einer Entrechtlichung der internationalen Beziehungen aus. Rechtliche Regeln, die die eigene Handlungsfreiheit einschränken, werden beseitigt oder Bemühungen solche Regelungen zu schaffen werden torpediert. (Stichwort: Rüstungskontrolle, ABM-Vertrag) bzw. gar nicht erst eingegangen (Stichworte: Kyoto-Protokoll, Verifikationsprotokoll zur Biowaffenkonvention, Internationaler Strafgerichtshof o. Ä.).
  2. Die Deregulierung der internationalen Beziehungen zeigt sich auch in einer Devaluierung, in einer Entwertung internationaler Organisationen. Organisationen, die bisher die Aufgabe hatten, multilateral kollektive Entscheidungsfindung und kollektive Entscheidungsprozesse zu organisieren, werden vor die Wahl gestellt, sich freiwillig zu Erfüllungsgehilfen für nationale Entscheidungen der USA zu machen oder alternierend nur noch als potentielle Konsultationsgremien zu dienen, die auch an den Rand des Geschehens oder ins Abseits gestellt werden können. Die beiden Organisationen, die davon bisher am stärksten betroffen gewesen sind, sind die NATO und die Vereinten Nationen. Sie wurden vor die Wahl gestellt, nationale politische Entscheidungen Washingtons nachzuvollziehen, diesen die Legitimation der internationalen Gemeinschaft in der einen oder anderen Form zu geben oder aber – als irrelevant und als Schwatzbuden, die ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht werden, beiseite geschoben zu werden.
    Kurzer Exkurs: In gewisser Weise kann man hier jene Bruchstelle entdecken, an der Kanzleramt und Außenministerium in der Irak-Frage aneinander geraten sind. Das Kanzleramt entschied, die übergeordneten Interessen der Bundesrepublik lägen in der Aufrechterhaltung von multilateraler Institutionen wie der UNO, der Stärkung des existierenden internationalen Rechts und deswegen könne es in der Irakfrage nur ein weitgehend kompromissloses "Nein" zu einem Krieg ohne UNO-Mandat geben. Zudem könne aus dieser Interessenslage heraus keinesfalls auch nur angedeutet werden, dass die Interpretation der UNO-Resolution 1441 doch einen Krieg rechtfertigen könnte, eine Position, die das Außenministerium gerne vertreten hätte. Ende des Exkurses.
  3. Das dritte Element, das mit der Devaluierung internationaler Institutionen eng verbunden ist, kann als Renationalisierung von Entscheidungsbefugnissen und Rechtssetzungsansprüchen beschrieben werden. Die Bush-Administration verlagert zentrale politische Entscheidungsbefugnisse, so die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Kriegen von den zuständigen multilateralen Institutionen zur nationalen Regierung nach Washington. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Irak-Krieges wurde von New York nach Washington umgezogen.
  4. Das vierte Element besteht in einer neuen Bündnispolitik. Auch hier gilt Multilateralismus a la carté: Der spezifische Ausdruck ist die Coalition of the Willing, die Koalition der Willigen. Nicht Bündnisse, die wie die NATO als Orte gemeinsamer kontinuierlicher Entscheidungsfindung konzipiert wurden, sind das vorrangige Instrument mulitlateraler Absicherung nationaler Zielsetzungen, sondern ad-hoc gebildete Koalitionen, die sich aus der nationalen Zielsetzung ergeben. Donald Rumsfeld, der Verteidigungsminister George W. Bushs, hat dafür den treffenden Satz geprägt: "The mission defines the coalition, not the coalition the mission".
  5. Das fünfte Element besteht in einer Ausweitung der Interventionsbegründungen und damit der angeblich legitimen Kriegsgründe. Neben die aus der Clinton-Zeit bereits bekannte "humanitäre Intervention" treten weitere Interventionsbegründungen, die ebenfalls der Flexibilisierung amerikanischer Außen-, Sicherheits- und Machtpolitik dienen: Die Bekämpfung des Terrorismus und Bekämpfung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und dabei sowohl jene an staatliche als auch an nichtstaatliche Akteure. Flexibilisierung bedeutet dies, weil entgegen dem klassischen Völkerrecht überhaupt erst politische Begründungen mit Legitimitätsanspruch für das militärische Eingreifen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten geschaffen werden. Das amerikanische Rechtsverständnis auch hinsichtlich des Völkerrechtes ist präzedenzfallorientiert. Schuf der Kosovo den Präzedenzfall für eine humanitäre Intervention, so war Afghanistan der für die Bekämpfung des Terrorismus und so ist der Irak jener für die Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Auf diese Fälle kann man sich künftig berufen, wenn es gilt, Interventionen als legitim darzustellen. Für Staaten wie die Bundesrepublik, Frankreich, Rußland und China dürfte die Präzendenzfall-Verhinderung übrigens ein weiteres wesentliches Argument für ihr Nein zu einer UN-Legitimation eines Krieges gegen den Irak gewesen sein.
  6. Schließlich und endlich die Elemente Prävention und Präemption – auch mit militärischen Mitteln. Die Bush-Administration hat sich entschlossen, den präventiven und präemptiven Gewalteinsatz offen in den Kanon ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten aufzunehmen. Auch dies entspricht nicht dem Völkerrecht, sondern ist zunächst eine logische Folge des Rückgriffs auf das Naturrecht bzw. das Recht des Stärkeren. Es findet seine Analogie in einer Haltung, sich abzeichnende geopolitische Veränderungen oder Krisen nicht zunächst abzuwarten, sondern unter dem Vorzeichen, Weltordnung neu gestalten zu wollen, selbst einzuleiten – sei es mit politischen, wirtschaftlichen oder auch militärischen Mitteln.

Ich möchte nun zunächst für einen Moment positive Aspekte des Ansatzes betrachten. Er erkennt, daß sich die Herausforderungen in der Sicherheitspolitik deutlich verändert haben. Für die Sicherheit der Menschen in den Industriestaaten gewinnen asymmetrische und globale Risiken – so zum Beispiel der internationale Terrorismus, die zunehmende, privatisierte Kontrolle über Gewaltmittel bei gleichzeitig vielerorts fortschreitendem Bedeutungsverlust des staatlichen Gewaltmonopols und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie Technologien und Ausgangsmaterialien für solche Waffen - erheblich an Bedeutung, zumindest relational im Vergleich zu zwischenstaatlichen Kriegen. Für die USA impliziert dies das Ende vom Traum der Unverwundbarkeit, in Europa kehrt die gegen Ende des Kalten Krieges bereits einmal thematisierte "Verwundbarkeit der Industriegesellschaft" auf die Tagesordnung zurück.

Mit anderen Worten: Washington könnte argumentieren: Wir brauchen eine an diese neuen Herausforderungen angepasste Weltordnung. Diese kommt nicht von selbst. Wir müssen sie gestalten und dazu gehören internationale Organisationen, die angesichts diesen neuen Herausforderungen handlungsfähig sind. Genau so wird es auch von einigen in Washington vertreten. Wenn alles gut geht, so sagen sie, dann können wir so etwas wie eine "Doktrin der Grenzen nationaler Souveränität" entwickeln, also ein Set von Werten, an das sich Regierungen halten müssen, wenn sie vor Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft oder der USA sicher sein wollen. Sie müssen Werte wie Demokratie, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, Nichtunterstützung von Terrorismus, Nichtunterstützung von Proliferation gewährleisten. Ist dem nicht so, dann darf und muß ein Regierungswechsel erzwungen werden können. Hierher rührt das Motiv "Regime Change" in der sich entwickelnden Doktrin der Bush-Administration. Die internationalen Organisationen müssen entweder den Wandel zu einer solchen neuen Wertebasis mitmachen und Instrumente der Implementierung dieser neuen Weltordnung werden oder aber – wenn sie sich dazu unfähig bzw. unwillig zeigen - durch neue Institutionen ersetzt werden, die unter Führung Washingtons neu zu gründen wären. Ob es dazu kommt, ob auf die Phase der Dekonstruktion der internationalen Ordnung und der Deregulierung des internationalen Systems, die derzeit läuft, auch eine Phase des Wiederaufbaus treten wird, wissen wir heute noch nicht.

 

3. Wichtige Bruchlinien

Ich will nun auf zwei substantielle Widersprüche in diesem Denk-System, in diesem Gedankengebäude aufmerksam machen:

  1. Am Beispiel der zeitlich parallelen Eskalation des Konflikts mit Nordkorea und des Konflikts um den Irak war festzustellen, dass Washington mit dieser Politik sehr schnell vor der Frage "Viele Kriege oder viele Standards?" stand. In beiden Fällen geht es um Massenvernichtungswaffen, beim Irak um vielleicht virtuelle Programme, bei Nordkorea sicher um reale. Trotzdem wird das militärische Vorgehen zunächst gegen den Irak und nicht gegen Nordkorea gerichtet. Mit anderen Worten: Es stellt sich die Folgefrage: Gibt es unterschiedliche Standards für unterschiedliche Proliferateure? Gibt es "böse Schurken", gegen die militärisch vorgegangen werden muß, aber auch "tolerable Schurken", gegen die ein militärisches Vorgehen aus welchem Grund auch immer nicht opportun erscheint? Gibt es vielleicht sogar "gute Schurken", Staaten, bei deren Proliferationshandlungen es wegzusehen gilt? Derzeit habe ich z.B. noch nicht gehört, dass die Bush-Administration die absehbare Reaktivierung des taiwanesischen Nuklearprogramms kritisiert hätte. Schon die Möglichkeit, daß dem so sein könnte, impliziert zweierlei: Erstens wird die Glaubwürdigkeit der behaupteten Wertebasierung der neuen Weltordnung infragegestellt. Diese Problematik verschärft sich, da auch hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung keine widerspruchsfreie, wertebasierte Argumentations- und Handlungslinie in der Bush-Administration zu erkennen ist. Hinzu kommt: Als Kollateralschaden dieses Politikansatzes könnte eintreten, was vorgeblich verhindert werden soll – ein Mehr an Terror und ein mehr an Proliferation. Zweitens stellt sich die Frage, ob diese Problematik daraus resultiert, daß auch die einzige Weltmacht USA nicht über die wirtschaftlichen oder militärischen Ressourcen verfügt, die erforderlich wären, die angedachte neue Weltordnung notfalls im Alleingang und wo immer nötig auch militärisch durchzusetzen. Gemeinhin wird dies als das Phänomen der Gefahr der imperialen Überdehnung bezeichnet.
  2. Daraus ergibt sich der zweite Problembereich: Washington gibt derzeit nicht zu erkennen, daß es sich der Grenzen seiner Macht bewußt ist. Optionen zu kooperativer Multipolarität werden mancherorts auch dann zugunsten unipolarer Handlungsoptionen ausgeschlagen, wenn – wie im Falle der Unterstützungsangebote durch die NATO bei der Terrorismusbekämpfung – eine ausreichende Basis gemeinsamer Interessen besteht, um multilateral vorzugehen. Die Demonstration der eigenen Stärke und der Möglichkeit, auch den eigenen Partnern die Fähigkeit vorzuführen, daß man das Recht des Stärkeren nutzen kann und wird, dominiert in den Vorstellungen der neokonservativen Republikaner, die die Außen- und Sicherheitspolitik der Bush-Administration derzeit dominieren. Damit mag die Hoffnung verbunden sein, dieses Vorgehen werde sich de facto durchsetzen, weil die Sogwirkung der eigenen Stärke und das Nachgeben jener, die – wie Tony Blair glauben - durch Mitmachen Mitentscheidungsmöglichkeiten zu sichern, eine hinreichende Zahl von Unterstützern generieren werde. Damit kann aber auch die Gefahr verbunden sein, daß die "einzige Supermacht" zu einer "vereinsamenden Supermacht" und schließlich zu einer "einsamen Supermacht" wird, der die erforderlichen Partner und multilateralen Kooperationsmöglichkeiten gerade dann fehlen, wenn diese am dringendsten benötigt werden, dann nämlich, wenn die Gefahr der imperialen Überdehnung spürbar und virulent wird. Selbst wenn sich die zuvor genannte Hoffnung auf die Sogwirkung durchsetzen sollte, bliebe zumindest die Gefahr bestehen, daß die Verläßlichkeit "tributzahlender Vasallen" zumeist dann zweifelhaft wird, wenn deren Beitrag in einer Krise existentielles Gewicht bekommt.
    Mit anderen Worten: Die Frage steht im Raum, ob Washington es sich wirklich leisten kann, auch gegenüber potentiellen Partnern für "kooperative Multipolarität" bei der Neugestaltung von Weltordnung auf das Recht des Stärkeren und unilaterales Vorgehen zu setzen. Deren natürlichstes Interesse muß es ja sein, Multilateralismus und Multipolarität zu stärken und dies notfalls gemeinsam.

Mit anderen Worten: Die immanenten Schwächen der sich entwickelnden Bush-Doktrin können auch dazu führen, dass zwar der Schritt der Deregulierung der internationalen Beziehungen gegangen wird, aber für den Schritt einer Rekonstruktion internationaler Beziehungen auf einer neuen Wertebasis die Kräfte fehlen. Dann wären ein deutliches Minus an internationaler Stabilität und ein deutliches Plus an zwischenstaatlicher Anarchie die wahrscheinlichen Folgen. Dies hätte für Washington schwerwiegende Folgen – mehr aber wohl für ein Europa, das kein wirklich einheitlicher Akteur ist und wahrscheinlich oft nicht schnell genug mit einheitlicher Stoßrichtung agieren könnte. Es bleibt abzuwarten, ob Washington diese Entwicklungsoption als eines der Ziele seiner Politik zu erkennen gibt bzw. als ein Mittel einsetzen wird, um dem Entstehen machtpolitischer Konkurrenten mit regionalen Handlungsmöglichkeiten vorzubeugen.

 

4. Auswirkungen auf Europa – NATO und EU

Europa und die NATO sind von diesem Doktrinwandel massiv betroffen – politisch, wie militärisch. Über die NATO erheben die USA den Anspruch, daß die europäischen NATO-Staaten Washingtons nationalen Strategiewandel nachvollziehen und ihre Ressourcen mit in den Dienst der Ziele der USA stellen. Zugleich bleibt die NATO das wichtigste Instrument amerikanischen Einflusses auf die sicherheitspolitische Entwicklung in Europa. Dies kommt z.B. in den verschiedenen Interpretationsrichtungen der Formulierung "NATO first" ebenso zum Ausdruck, wie in dem deutlichen Bestreben Washingtons, sich Möglichkeiten der Mitsprache bzw. politischen Kontrolle und des Zugriffs auch hinsichtlich der militärischen Krisenmanagementpotentiale der Europäischen Union zu sichern. Dies alles gilt trotz aller Signale, die NATO sei nicht zwingend erforderlich und müsse sich mit einer mitberatenden aber nicht mitentscheidenden Rolle zufriedengeben. Es gilt trotz aller Versuche Washingtons, das Verhalten von heutigen und künftigen NATO-Staaten bilateral in seinem Sinne zu nutzen. Ich beschränke mich hinsichtlich der Auswirkungen auf die Beschreibung von zwei großen Problembereichen:

  1. einige Auswirkungen der veränderten nationalen militärischen US-Strategie auf die europäische/n Haltungen zu einigen wichtigen völkerrechtlichen Regeln und
  2. die Auswirkungen der Prager Gipfelbeschlüsse der NATO im militärischen Bereich auf die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU

Zum ersten: Die NATO steht vor einer Frage, die sehr unangenehm werden kann: Übernimmt sie die Veränderungen der nationalen militärischen Strategie Washingtons, damit amerikanische Streitkräfte, egal, ob unter US oder unter NATO-Befehl, innerhalb der gleichen politisch-militärischen Vorgaben eingesetzt werden können – ein Punkt auf den die USA immer wieder großen Wert gelegt haben? Dies war immer wieder ein Grund dafür, warum NATO-Strategien nach einigen Jahren amerikanischen Strategien angepasst werden mussten. Wäre dem aus diesmal so, dann würde es für die Europäer erhebliche Probleme hervorrufen. Zwei will ich benennen: Erstens: Die Rolle der in der NATO vorhandenen Nuklearwaffen im Rahmen von Szenarien der Bekämpfung von Proliferation. Wenn Washington sich entscheiden würde, Nuklearwaffen als Vergeltung gegen einen Akteur zu nutzen, der B- oder C-Waffen eingesetzt hat – eine Option, die Präsident Bush explizit in einer National Security Presidential Directive gebilligt hat, dann würde dies eine Verletzung der Negativen Sicherheitsgarantien darstellen, die die USA, so wie alle etablierten Nuklearwaffenstaaten, den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag, gegeben haben. Würde ein solcher Einsatz gegen nicht-staatliche Akteure, die ja per definitionem kein Staatsterritorium haben, erfolgen, so würde es sich um einen Verstoß gegen die Rechte des Staates, auf dessen Territorium sie sich aufhalten handeln, ebenso wie um einen Völkerrechtsverstoß. Mehr noch, da die USA explizit auch präventive und präemptive militärische Schläge gegen staatliche und nichtstaatliche Akteure, die im Verdacht stehen, sich Massenvernichtungswaffen zulegen zu wollen oder den Einsatz solcher Waffen vorzubereiten, vorbehalten und auch nicht explizit ausschließen, daß Nuklearwaffen in einem solchen Kontext zum Einsatz kommen könnten, verschärft sich das Problem: Völkerrechtswidrig wäre dann möglicherweise nicht nur die präventive oder präemptive Angriffshandlung selbst, sondern auch und vor allem der Nuklearwaffeneinsatz. Dieser dürfte zwar als letztes Mittel erachtet werden; das darf aber nicht dazu führen, daß die Folgeprobleme nicht durchdacht werden.

Ein hypothetisches Szenario: Washington vermutet aufgrund von Geheimdienstinformationen, daß im Nahen oder Mittleren Osten ein Staat oder nicht-staatliche Akteure sich mit Vorbereitungen auf einen künftigen Einsatz chemischer oder biologischer Waffen befassen. Dies würde Washington gerne präventiv verhindern. Ein UNO-Mandat anzustreben wäre aufgrund der Beweislage wenig erfolgversprechend und würde die Betroffenen nur vorwarnen. Mithin: Was völkerrechtlich zweifelhaft ist und von der UNO keine Legitimation bekäme und zudem wohl höchst negative Folgen für Washingtons Reputation in der Welt hätte – so die Überlegung – das sollte gemeinsam mit anderen, der nächst besser legitimierenden Organisation, nämlich der größten militärischen Allianz demokratischer Staaten, sprich der NATO, getan werden. Die Funktion der NATO wäre es dann aus amerikanischer Sicht, einen Völkerrechtsbruch als geringeres Übel erscheinen zu lassen, weil 19 demokratische Staaten (oder in Zukunft 26) das Ganze legitimieren. Denken wir dies einmal weiter: Was passiert, wenn Washington die NATO auffordert, den Beschluß gemeinsam zu fassen und die Aktion als Bündnis durchzuführen, die Folgen gemeinsam zu verantworten – im Rahmen der nuklearen Teilhabe? Das hieße, ein europäisches Land stellt den Flugplatz zur Verfügung, von dem die Flugzeuge starten, ein zweites Luftbetankungsmittel, ein drittes stellt seinen Luftraum bereit und ein viertes Land das Trägerflugzeug für die amerikanische Atomwaffe aus NATO-Beständen? Stellen wir uns vor, die Bundesrepublik solle das Trägerflugzeug stellen. In Kreisen deutscher Politik muss ein solches Szenario mehr als höchsten Alarm auslösen. Richtig, ein Worst-Case Szenario, bei dem man nur hoffen kann, daß es nie eintritt. Mit dem man sich aber politisch auseinandersetzen muß, weil es nicht völlig ausgeschlossen werden kann – und aus deutscher Sicht vor allem dann zu größten Gewissensnöten führen würde, wenn Washington eine Bedrohung Israels als Anlaß zum Einschreiten sehen würde. Das Neinsagen wäre sehr viel schwerer als in der Irak-Frage. Und das Völkerrecht? Was wäre mit der Deutschen Haltung zum Völkerrecht?

Ich denke grade die Drastik dieses Szenarios macht deutlich, wie weitreichend die Folgen einer entsprechenden Anpassung der NATO-Strategie wären. Aber auch die potentielle Alternative wäre keine einfache: Kann es den europäischen NATO-Staaten gelingen, das Gewicht und die Bedeutung der NATO zu erhalten und Washington zugleich klarzumachen, daß im Bündnis andere Regeln gelten als in der nationalen Strategie? Daß Europa nicht willens ist, sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen, weil es den Multilateralismus selbst braucht?

Wenden wir uns zweitens den Auswirkungen der Bush-Doktrin – und die Prager Gipfelergebnisse zeigen wie wichtig dies ist – auf eine andere Frage zu: Wie strukturiert und orientiert sich die NATO künftig im Blick auf ihre Aufgaben out of area, auf politisch wichtige Elemente ihrer Streitkräftestruktur – der Vorschlag einer 20.000 Mann starken NATO-Response Force, die die USA weltweit bei Interventionen unterstützen sollen – und im Blick auf die Fähigkeiten bzw. die technische Ausstattung ihrer Streitkräfte (Stichwort: Prager Fähigkeitsverpflichtungen, Prague Capability Comittments). Die Schaffung dieser Fähigkeiten ruft natürlich einerseits Fragen nach den politischen Garantien hervor, daß diese nur rechtskonfrom eingesetzt werden. Sie ruft aber auch die Frage hervor, welche Auswirkungen sich im Blick auf die Bemühungen der EU um eine eigenständige, autonome Krisenmanagementfähigkeit ergeben würden.

Was also wären die Auswirkungen auf die EU, wenn das, was in Prag beschlossen wurde umgesetzt würde? Ist das Risiko immanent, daß die geplanten EU-Krisenmanagementstrukturen nicht länger in der Form nicht umgesetzt werden können wie sie geplant?

Dieses Risiko ist wohl gegeben. Die meisten Europäer planen die gleichen Streitkräfte für NATO- und EU-Einsätze ein – "one set of forces" lautet die Formel. Wenn aber jederzeit 20.000 Soldaten der europäischen NATO-Staaten für Einsätze zur Unterstützung der USA bei globalen Interventionen im Rahmen der NATO bereitgehalten werden sollen, dann müssen insgesamt – wegen der Rotation – mindestens 60.000, vielleicht sogar 100.000 Soldaten auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Sie müssten auf Kompatibilität und Interoperabilität mit amerikanischen High-Tech Streitkräften ausgerüstet werden – in kürzester Frist, denn bis 2004 soll eine vorläufige Einsatzbereitschaft hergestellt werden.

Für die Fähigkeit der EU-Staaten, die in Helsinki 1999 festgelegten Ziele für das militärische Krisenmanagement der EU zu erreichen, birgt dies erhebliche Risiken. Die Kräfte für die NATO-Truppe kämen aus dem gleichen Streitkräftepool wie jene für die EU-Krisenreaktion. Zudem wären es wohl die leistungsfähigsten, modernsten Anteile. Das führt zu drei Fragen: Erstens wäre zu fragen, ob diese Truppen – angesichts der zu erwartenden hohen Belastungen im NATO-Kontext zeitlich für EU-Einsätze noch zur Verfügung stehen würden? Zweitens wäre zu fragen, ob die Autonomie der EU-Handlungsmöglichkeiten hinreichend gesichert wäre, wenn die NATO jeweils zustimmen müßte, ob die Verbände für einen EU-Einsatz abgestellt werden können. Drittens müssen diese Kräfte, um mit den US-Streitkräften gemeinsam global bei Konflikten hoher Intensität eingesetzt werden zu können, weitgehend nach amerikanischem Muster modernisiert werden, d. h. sehr teuer und mit viel in den USA einzukaufender Technik. Daraus resultiert die Frage, ob sich die heute existente Technologis-Lücke zwischen der Ausstattung von US-Kräften und europäischen Kräften auf diesem Wege teilweise oder ganz in die EU selbst verlagern würde? Ob Kräfte der EU-Staaten, die für die NATO Response Force vorgesehen sind, noch mit denen interoperabel wären, die für das EU-Krisenmanagement bereitgehalten werden? Ob letztere auch teuer nach amerikanischem Muster modernisiert werden müßten, um alle Kräfte aus den EU-Staaten überhaupt noch gemeinsam einsetzen zu können? Spötter haben die Prager Capability Commitments bereits umgetauft: Es seien Buy American Commitments. Doch die politische Folgefrage dahinter ist gewichtiger: Würde Europa auf diesem Wege für das Geld europäischer Steuerzahler bekommen, was im europäischen Interesse liegt? Oder bekäme Europa für dieses Geld vor allem die Fähigkeit bei weltweiten amerikanischen Einsätzen mit von der Partie zu sein, ohne aber eine Garantie zu haben, über diese Einsätze auch mitentscheiden zu können? Oder andersherum: Würden Europas Steuerzahler eine größere oder eine geringere Handlungsfähigkeit Europas finanzieren?

Die Gefahr ist real, das gesamte Modell einer eigenständigeren europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter der Autorität des Amsterdamer Vertrags von 1998 aufzubauen, auf der militärisch-technischen Ebene ausgebremst, gekippt und zum Scheitern gebracht wird, Europa nicht mehr Eigenständigkeit und Gewicht innerhalb der NATO und für sich selbst hätte, sondern weiter denn je davon entfernt wäre, als europäischen Pfeiler der NATO ein gleichgewichtiger Partner für Washington zu werden.

 

5. Einige Schlußfolgerungen für Europa

Ich denke, es ist deutlich, daß Europa in der Frage, was eigentlich eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Zukunft leisten soll, sehr viel radikaler, klarer, zielgerichteter und schneller denken, handeln und entscheiden muß. Europa muß seine Ziele und Interessen klar definieren – für die ESVP aber auch bereits für eine europäische Verteidigungspolitik. Vor allem müssen die Staaten der EU sich klar werden, wie sie ihr genuinstes Interesse, nämlich mitentscheiden zu können, wie mit einer Krise umgegangen werden soll, ob durch zivile oder militärische Intervention und in welchem Rechtsrahmen, ob im Rahmen des Völkerrechts oder des Naturrechts, realisieren wollen. Dazu zum Abschluß einige Überlegungen:

  1. Angesichts der absehbaren, künftigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ist eine integrierte, auf das künftige Europa ausgerichtete "Sicherheitspolitik aus einem Guß" alternativlos. Zu dieser müssen in den kommenden Jahren alle Gestaltungsmittel der Außen- und Sicherheitspolitik, von humanitärer Hilfe und Sanktionen über Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik, internationale Finanzpolitik, Rüstungsexporte, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bis hin zu den Mitteln des zivilen und militärischen Krisenmanagements verzahnt und integriert werden. Sicherheit kann – vor allem angesichts der sogenannten asymmetrischen Risiken - nicht mehr allein national und nur noch ressortübergreifend organisiert werden. Der Charakter der Risiken wird zunehmend deutlich werden lassen, daß diese nicht primär mit militärischen Mitteln bekämpft werden können und die Organisation von Sicherheit künftig eine Ressourcenumverteilung erfordert. Die EU als Zivilmacht verfügt deshalb über ein viel besser aufgestelltes Potential wirksamer Handlungsoptionen als es zunächst vielleicht scheinen will. Bei ihrer Weiterentwicklung sollte nicht vorschnell von der Notwendigkeit ausgegangen werden, wie die USA primär auf ein militärisches Standbein zu setzen, sondern zunächst ausgelotet werden, ob zivile Risiko-Prävention und Präemption im Rahmen einer europäischen Sicherheitspolitik nicht effizienter wäre.
  2. Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die dem Anspruch, gerecht wird, bei der Frage: "Wie wird mit einer Krise umgegangen?" mitentscheiden zu können, muß erstens die politische und militärische Bereitschaft signalisieren, global bei der Gestaltung von Weltordnung Verantwortung zu übernehmen und mitzuwirken. Sie muß zweitens die Bereitschaft signalisieren, für zurecht durch die USA in die Diskussion gebrachte Risikopotentiale – wie den internationalen Terrorismus oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – glaubwürdige und wirksame Gegenstrategien zu entwickeln. Und sie muß drittens die Bereitschaft signalisieren, das Heft den Handelns in die Hand zu nehmen, selbst die Tagesordnung zu bestimmen. Nur die Bereitschaft zu einem solchen Vorgehen eröffnet die Möglichkeit, frühzeitig auf Krisenpotentiale zu reagieren und die Chancen präventiven Krisenmanagements nutzen zu können. Schließlich bedarf es auch der Bereitschaft, einen europäischen, militärischen Beitrag zu amerikanisch-geführter Sicherheitspolitik zu leisten, der signifikant genug sein muss, um Washington eine europäische Mitsprache attraktiv erscheinen zu lassen. Dieser Beitrag, diese Fähigkeiten müssen aber als europäische organisiert sein, die von den europäischen Staaten bzw. der EU in die Waagschale eingebracht werden können – nicht als ein Beitrag, der primär und automatisch für die USA verfügbar ist und dessen Verwendung im EU-Rahmen Washington per Veto verhindern könnte. Europa muß europäische Fähigkeiten organisieren und finanzieren, mit denen die USA bei Bedarf unterstützt werden können, nicht eine europäisch finanzierte Hilfstruppe für die USA. "The US fights, the EU funds and the UN feeds" – das kann keine Perspektive europäischer Sicherheitspolitik sein.
  3. Dies bedeutet, dass sich Europa bei seiner Sicherheitspolitik die Frage stellen muss, ob es nicht schon jetzt oder bald so handeln muß, als sei es bereits ein einheitlicher Staat. Europa muss seine eigene sicherheitspolitische Denkkultur in diese Richtung entwickeln, denn nur dann wird es möglich sein, der Diskussion über einen erweiterten Sicherheitsbegriff eine solche über einen erweiterten Lastenteilungsbegriff hinzuzufügen. Ohne diese bleiben die Beiträge zur Sicherheit, die beide Seiten des Atlantiks leisten, ungleich gewichtet und auf das Militärische fixiert.
  4. Ich will schließlich ein ganz konkretes Beispiel dafür nennen, wie ein eigenständiger und wirksamer Beitrag Europas im Sinne einer "Präventiven Sicherheitspolitik aus einem Guß" aussehen könnte. Europa hätte die Möglichkeit, einen sehr substantiellen sicherheitspolitischen Beitrag zu leisten, wenn es seine Ressourcen gezielt in eine Reduzierung der Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern Öl und Gas investieren würde. Eine systematische Förderung erneuerbarer Energien und ein "Schnellstart" in die Nutzung neue Energieträgertechnologien (z.B. Wasserstofftechnologie und/oder Brennstoffzelle) sowie in dezentralisierte Energieversorgungssysteme wäre eine sicherheitspolitische Investition. Der Einstieg in die Brennstoffzellentechnik ist zwar relativ kostenintensiv, aber nicht kostenintensiver als große Militärprogramme. Eine solche Politik wäre eine massive Investition in die Sicherheit Europas und der Welt, schon weil
  • erstens eine solche, alternative und dezentrale Energieversorgung eine deutlich geringere militärische, terroristische oder auch nur unfalltechnische Verletzlichkeit aufweisen würde;
  • sie krisenresistenter als eine öl- und gasbasierte Energieversorgung wäre;
  • die Konkurrenz um die fossilen Energieträger Öl und Gas schrittweise nachlassen statt wie derzeit erwartet wachsen würde;
  • das Europa der Industriestaaten die Anlauf- und Einführungskosten für diese neue Technologie tragen würde, sie anschließend für die Entwicklungsländer aber erschwinglicher wäre und die Bereitstellung der neuen Technologie zusammen mit dem niedrigeren Öl- und Gaspreis Entwicklung fördern würde;
  • und weil schließlich und endlich eine Reihe positiver Nebenwirkungen wie Klima-und Umweltschutz oder die Stärkung Europas als Technologiestandort damit verbunden wäre.

Europa täte deshalb meiner Einschätzung nach gut daran, sich zunächst seiner eigenen Interessenslage klar zu werden und dann zu entscheiden, ob die europäische Sicherheitspolitik der Zukunft erfolgversprechender gestaltet werden kann, wenn sie auf das amerikanische Modell der Neokonservativen in der Bush-Administration ausgerichtet wird oder wenn sie asymmetrisch und verkoppelt mit dem Angebot kooperativer Multipolarität als europäische Antwort auf die neuen sicherheitspolitischen Risiken entwickelt wird. Dann gäbe es zumindest zwei mögliche Antwortstrategien auf diese Risiken – und die Erfolgsaussichten wären wahrscheinlich größer. Und schließlich – voraussichtlich gibt es auch noch ein Amerika nach George W. Bush.

 

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).