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BITS Research Note 00.8
Dezember 2000
ISSN 1434-
7687

 

Die Auswirkungen des NATO-Krieges gegen Jugoslawien auf die Beziehungen zwischen der NATO und Rußland

Jürgen Wagner

 

 

Einleitung 

"Die Entscheidung der 19 Bündnispartner, gegen den Willen und ohne vorherige Konsultationen mit Moskau gegen Präsident Milosevic mit Waffengewalt vorzugehen, hatte in russischen Augen das berühmte Faß zum überlaufen gebracht." 1Ein einziger Satz, erschienen in einer Bundeswehrzeitschrift, macht die Bedeutung des Kosovo-Krieges für die NATO-Rußland Beziehungen deutlich. Er impliziert korrekterweise auch, daß dieses Verhältnis bereits vor den Luftangriffen gegen Jugoslawien von Spannungen geprägt war.

Der Krieg war eine Art Zäsur. Die beiderseitigen Beziehungen müssen erst wieder neu formiert werden. Mit Wladimir Putin, dem russischen Präsidenten, bietet sich dazu die Chance und es zeichnen sich erste Konturen ab. Die Streitfragen aber, die der Kosovo-Krieg aufwarf, bestehen weiter. Diese sollen hier dargestellt, sowie Vorschläge für eine künftige Politik unterbreitet werden.

Das Verhältnis NATO-Rußland 1991-1999 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion diente der Westen in Rußland zunächst als das zu erstrebende politische, soziale und wirtschaftliche Modell.2 Dies führte dazu, daß Rußland bereit war, gegenüber der westlichen Politik große Zugeständnisse zu machen.3

Einen ersten Bruch4 erfuhr diese Haltung durch die von der NATO seit 1993 diskutierte Osterweiterung. Diese wurde von Rußland als eine ernste Bedrohung seiner nationalen Interessen wahrgenommen,5 weshalb auch versucht wurde, sie zu verzögern oder gar politisch zu verhindern. Rußland berief sich dabei auf eine im Zuge der Diskussion um die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands gemachte, (mündliche) Zusicherung der Allianz, keine Osterweiterung vorzunehmen.6 "Moscow started [in early 1994] to realise that NATO enlargement would be accompanied neither by Russia's integration into the Alliance nor by NATO's transition into a political institution."7

Diese Einsicht stellt eine wichtige Wandlung in der russischen Wahrnehmung der NATO dar. Das Ziel einer gleichberechtigten strategischen Partnerschaft mit dem Westen, namentlich mit den USA als Führungsmacht zu erreichen, wich schrittweise der Einschätzung, die NATO sei hauptsächlich an einer Marginalisierung Rußlands interessiert.

Rußland suchte nun Wege, wenigstens in die Abläufe und die Gestaltung jener Prozesse Europäischer Sicherheit eingebunden zu werden, die direkt oder indirekt die Interessen Moskaus tangierten. Dabei setzte es große Hoffnungen auf die "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit" zwischen der NATO und Rußland, die im Mai 1997 unterzeichnet wurde und aus russischer Sicht garantieren sollte, daß die NATO relevante Entscheidungen nicht gegen den Willen Moskaus treffen werde. Ziel war es, Einflußmöglichkeiten auf die NATO-Politik zu eröffnen, da "laut diesem Dokument [...] Rußland zum gleichberechtigten Partner der NATO hinsichtlich Konsultation, Zusammenarbeit sowie gemeinsamer Entscheidungen und gemeinsamen Handelns werden"8 sollte.

Diese Wahrnehmung entsprach aber keineswegs der Sicht der NATO und insbesondere der USA. Der Westen war bereit, Rußland zu konsultieren, gestand ihm aber aufgrund der bestehenden Machtasymmetrien kein Mitsprache- oder gar Vetorecht bei der Gestaltung der NATO-Politik zu.9 So lehnte es die NATO lange Zeit ab, die seit 1997 geforderte Diskussion über ihr neues strategisches Konzept im NATO-Rußland Rat zu führen.10 Rußland wurde zwar informiert, sobald die NATO sich intern geeinigt hatte, d.h. oft spät, konnte dann seine Meinung äußern (bis zum Krieg), aber ob die russische Position gehört wurde, blieb Sache der NATO.

Im Vorfeld des Kosovo-Krieges standen sich somit zwei unterschiedliche Auffassungen über den Charakter der NATO-Rußland Beziehungen gegenüber. Die NATO war der Ansicht, eine adäquate Balance zwischen ihren Sicherheitsinteressen und der russischen Forderung nach einer angemessenen Einbindung gefunden zu haben11, während von Moskau weiterreichende Gestaltungs- und Mitsprachemöglichkeiten gefordert wurden12. Diese unterschiedlichen Sichtweisen wurden dann auch in der Bewertung des Krieges gegen Jugoslawien deutlich.

Die Allianz und Rußland während des Krieges 

Die Luftangriffe der NATO wurden von nahezu allen Teilen der russischen Eliten scharf verurteilt, sowie von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als ein direkter Affront gegen Rußland empfunden.13 Die russische Regierung reagierte auf politisch-diplomatischer Ebene mit dem Abbruch praktisch aller sichtbaren Beziehungen zur NATO14. Im militärischen Bereich hingegen wurde, trotz der von Hardlinern geforderten Waffenhilfe für die "slawischen Brüder", eher verhalten reagiert. Bis auf die Entsendung eines Aufklärungsschiffes in die Adria sowie die Bereitstellung russischer Aufklärungsdaten für Belgrad kam es zu keinen weiteren Aktionen.15

Nach dem Scheitern des Amtsenthebungsverfahrens gegen Jelzin im Mai 1999, das neben der grundsätzlichen Ablehnung des Krieges einen wichtigen Grund für die scharfe Rhetorik der Regierung darstellte16, suchte Moskau die Chance zu einer aktiveren Rolle bei der Lösung der Krise und nutzte die Option, vom Westen zunehmend in das Konfliktmanagement eingebunden zu werden. Hintergrund der Wende in der russischen Haltung war die Annahme, daß den russischen politischen Zielen mit einem Abbruch der Bombardierungen, dem Beweis der eigenen außenpolitischen Handlungsfähigkeit und einer Stärkung (Wiedereinbeziehung) des UNO-Sicherheitsrates17 am ehestens gedient sei. Diese Wende wurde zusätzlich erleichtert, da der Westen - in Gestalt der EU - Rußland ausdrücklich zu einer aktiven, vermittelnden Rolle und Kooperation aufgefordert hatte. Tatsächlich konnte Rußland in Zusammenarbeit mit der EU einen bedeutenden Beitrag zur Beendigung des Krieges leisten, was im nachhinein innenpolitisch beträchtlich zur Stärkung der Regierung Jelzin beitrug.

Die NATO nimmt für sich in Anspruch, Rußland bereits früh das Angebot zur Einbindung in das Krisenmanagement gemacht zu haben. Moskau wird vorgeworfen, sich durch seine anfangs passive Rolle selbst aus der Verantwortung entlassen zu haben. Dies geschieht meist mit dem Verweis auf die Legitimität des Einsatzes als Reaktion auf "Massenmorde" im Kosovo. Dabei wird Rußland Ignoranz gegenüber den dortigen Opfern vorgeworfen, sowie das Fehlen einer kohärenten Außenpolitik bemängelt.18 Da westlicherseits zunächst keine Möglichkeit gesehen wurde, die Krise gemeinsam mit Rußland zu lösen, habe "Rußland [...] sich selbst marginalisiert", so der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger.19

Zum Teil wird Rußland sogar vorgeworfen, vor allem im Vorfeld der Bombardierungen nicht an einer Verhandlungslösung interessiert gewesen zu sein20, was dann einen nicht durch den Sicherheitsrat legitimierten Einsatz, mit dem vorgeblichen Ziel die Menschenrechte zu schützen, begründbar machen sollte.

Nachkriegsbeziehung 

Nach dem Ende des Krieges und der Einbeziehung Rußlands in die UN-mandatierte Kosovo-Friedenstruppe KFOR war es vorrangiges Ziel der NATO, eine Wiederaufnahme der von Rußland abgebrochenen Beziehungen zu erreichen und eine Normalisierung des schwer angeschlagenen Verhältnisses der Allianz zu Moskau zu signalisieren. Dies sollte unter Wahrung der mittlerweile (unter anderem durch die Verabschiedung der neuen NATO-Strategie) geschaffenen Fakten und Machtverhältnisse geschehen. Augenscheinlich wurde dieses Interesse in der weitgehenden Zurückhaltung westlicher Regierungen in ihrer Kritik des Tschetschenienkrieges. Das beiderseitige Verhältnis sollte nicht erneut schwer belastet werden.21

Rußland seinerseits begann im Vorfeld des Präsidentschaftswechsels von Boris Jelzin zu Wladimir Putin mit einer tiefgreifenden Neuorientierung seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Ende 1999 wurde der Entwurf eines neuen nationalen Sicherheitskonzeptes veröffentlicht, das unter dem Eindruck der Ereignisse im Kosovo erarbeitet wurde und als Ausdruck eines breiten Konsenses der russischen außenpolitischen Eliten anzusehen ist.22 Der Inhalt dieses Dokumentes, zusammen mit der breiten Ablehnung zunächst des Krieges, dann aber auch generell einer inzwischen von der großen Mehrheit der Bevölkerung Rußlands als feindlich empfundenen NATO, veranlaßte einige Analysten, die Zukunftsperspektiven der NATO-Rußland Beziehungen äußerst pessimistisch einzustufen.23

Auffallend in dem neuen Sicherheitskonzept ist vor allem die aus der Erfahrung des Kosovo-Krieges resultierende scharfe Verurteilung der NATO und insbesondere der USA. Es wird die "Dominanz der entwikkelten Länder unter Führung der USA" beklagt, die aus russischer Sicht "einseitige, vor allem militärisch-gewaltsame Lösungen der Schlüsselprobleme der Weltpolitik"24 suchen. Wurde im nationalen Sicherheitskonzept von 1997 noch die Auffassung vertreten, es gäbe verstärkte Tendenzen zur Herausbildung einer multipolaren Welt, so fehlt dieser Optimismus in der neuen Version, genauso wie die Aussage, Rußland sei keiner Bedrohung durch einen westlichen Angriff mehr ausgesetzt. Insgesamt wird im Vergleich zu 1997 eine stärkere Bedrohung für die Sicherheit Rußlands gesehen, kooperativer Elemente werden zurückgenommen und gleichzeitig die Schwelle für einen russischen Atomwaffeneinsatz gesenkt.

Für die Bewertung dieser Konzeption, die den Charakter einer Regierungserklärung hat, ist es aber notwendig, Entwurf und tatsächlich verabschiedete Version des Konzeptes zu vergleichen. Zwar wird der schärfere Ton der neuen Konzeption häufig auf Putin zurückgeführt, der Entwurf des Sicherheitskonzeptes wurde aber noch während der Regierungszeit Jelzins erstellt. Tatsächlich nahm Putin in der Endfassung einige wichtige Änderungen und Akzentuierungen vor, die den konfrontativen Charakter des Papiers gegenüber dem Westen deutlich abschwächen. Dies geschah vor allem durch eine stärkere Betonung der Stabilität und Einheit der Russischen Föderation als Hauptaufgabe der Streitkräfte, die über den Erhalt der strategischen Parität mit dem Westen gestellt wurde. Diese Tendenz setzt sich auch in der neueren russischen Politik fort. Bemerkenswert ist auch, daß während im Jelzinschen Entwurf noch der Aufbau eines amerikanischen Raketenabwehrsystems kategorisch abgelehnt wird, in der Endfassung durchaus die Möglichkeit einer Verhandlungslösung über eine Revision des ABM-Vertrages zumindest angedeutet wird.25 Dies zeigt, daß auch in Fragen die für Rußland von enormer Bedeutung sind, Konflikte eher kooperativ als konfrontativ gelöst werden sollen.

Die verabschiedete Version deutet darauf hin, daß Wladimir Putin - in realistischer Einschätzung der Kräfteverhältnisse - nicht an einer Eskalation der Beziehungen mit dem Westen gelegen ist. Trotzdem aber blieb - im Vergleich zu 1997 - der generell pessimistischere Ton Rußlands gegenüber dem Westen sowie die stärkere Betonung militärischer Aspekte auch in der Endfassung erhalten. Dies ist der Ausdruck eines erheblichen Vertrauensverlustes und einer tiefen Enttäuschung über den Westen, vor allem über die USA. Gleichzeitig stellt die Konzeption den Versuch dar, die russische Außenpolitik auf realistische Füße zu stellen und eben diese neuen Erfahrungen zu berücksichtigen. Die stärkere Betonung militärischer Aspekte zeigt, daß man nicht gewillt ist jede westliche Politik, die russischen Interessen zuwiderläuft, hinzunehmen. Zugleich will man aber keine Eskalationspolitik betreiben.

Die reale Entwicklung bestätigt diese Annahme. Die Spannungen zwischen der NATO und Rußland bauen sich langsam ab. Ausdruck dessen ist einerseits die schrittweise Wiederbelebung der während des Kosovo-Krieges suspendierten vertrauensbildenden Maßnahmen,26 andererseits aber auch eine generell veränderte Rhetorik Rußlands gegenüber dem Westen.27 NATO-Generalsekretär George Robertson behauptete deshalb schon bald zweckoptimistisch: "Die Beziehungen der NATO mit Rußland stehen wieder auf festen Füßen."28 Eine entscheidende Rolle spielte dabei, daß "new forces approached [primarily Putin] in the Russian political scene in late 1999 and early 2000 [who want] a phased restoration of Russian - NATO contacts [because] that is wholly in line with the overall Russian policy of more pragmatic intercourse with Western countries.29" Allerdings dürfen die positiven, kooperativen Zeichen aus Moskau nicht als generelle Annäherung an die Positionen der NATO mißverstanden werden. Die kritische Haltung gegenüber der Allianz zieht sich auch heute noch nahezu durch das gesamte politische Spektrum Rußlands. Moskau will sich stärker auf seine internen Probleme konzentrieren. Dabei ist ein extrem gespanntes Verhältnis zum Westen hinderlich.

Man kann deshalb für die nahe Zukunft von einer "funktionalen, aber von wenig Vertrauen geprägten Beziehung"30 ausgehen, weshalb "in der Außenpolitik [...] russische Politiker immer häufiger mit dem Begriff des 'konstruktiven Isolationismus' im Verhältnis zum Westen [liebäugeln]. Die russische Elite wird versuchen, Rußlands Abhängigkeiten vom Westen zu verringern, was partnerschaftliche Kooperation in bestimmten Bereichen nicht ausschließt."31 Dies bedeutet Kooperation aufgrund der Sachzwänge und der daraus erwachsenden Vorteile ja, aber nicht zu jedem Preis.32

Dies scheint der künftige Rahmen zu sein, in dem die NATO und Rußland Lösungen der zum Teil extrem brisanten politischen Streitfragen erzielen müssen.

Gegenwärtige und zukünftige Interessenskonflikte 

Vor allem zwei Themen haben - jenseits der Pläne der USA, ein Nationales Raketenabehrsystem zu stationieren, das dem ABM-Vetrag zuwiderläuft - das Potential, die NATO-Rußland Beziehungen erheblich zu belasten und Konflikte hervorzurufen. Erstens: Wird eine weitere Runde der NATO-Osterweiterung eingeläutet und wenn ja, wann? Und zweitens: Greift die NATO erneut ohne UNO-Mandat zu militärischen Mitteln und wenn ja, wo?

1. Die Osterweiterung und die NATO-Rußland-Beziehungen 

Eine erneute Osterweiterung der NATO wird von Rußland als Bedrohung seiner vitalen, sicherheitspolitischen Interessen empfunden,33 denn "Moscow still views NATO as a weapon aimed primarily at Russia, and NATO expansion as a hedge against any 'future revival' of Russian power."34 Der Krieg der NATO gegen Jugoslawien bestätigte viele Russen in der Ansicht, die NATO sei ein "tool of war, not of peace", wie es der russische General Iwaschow ausdrückte.35 Aleksei Arbatow, ein führender, pro-westlich orientierter Sicherheitspolitiker Rußlands, konstatierte leicht polemisierend auf einem Seminar der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: "Operation 'Allied Force' achieved what four decades of Soviet propaganda failed to achieve: to make the Russians believe that NATO is an aggressive block.36" So ist es nicht verwunderlich, daß Rußland nach Jahren erstmals wieder ein sechstägiges Manöver durchführte, in dem die Verteidigung gegen einen NATO-Angriff geprobt wurde.37

Die aus dieser Sicht logische Ablehnung einer erneuten Osterweiterung der NATO bezieht sich vor allem auf die ehemaligen GUS-Republiken und auf einen Beitritt der baltischen Staaten.38 Die von Georgien, Aserbaidschan und anderen angestrebte baldige Mitgliedschaft in der Allianz wird von Moskau strikt abgelehnt, denn eine Erweiterung der NATO um Staaten, die aus russischer Sicht zum "nahen Ausland" gehören, würde als Überschreiten einer "roten Linie" russischer Interessen wahrgenommen.39

Die russische Auffassung zur Zukunft der Osterweiterung kollidiert erheblich mit den Ansichten vieler westlicher Sicherheitspolitiker. Sie wollen von Rußland festgesetzte rote Linien nicht hinnehmen. US-Außenministerin Madeleine Albright formulierte dies so: "Steadily and systematically we will continue erasing, [...] the line drawn in Europe by Stalin's bloody boot."40 Ihr politischer Ziehvater, Zbigniew Brzezinski, äußerte einen konkreten Vorschlag: "Die nächsten NATO-Länder sollten Slowenien, Litauen und die Slowakei sein. [...] Glücklicherweise ist Litauen der am wenigsten problematische Beitrittskandidat und Litauens NATO-Beitritt wird deshalb die Nichtanerkennung einer 'roten Linie' durch die Allianz unterstreichen, [denn es] darf kein Teil Europas, der diese objektiven und subjektiven Kriterien erfüllt, von einer dritten Partei durch das willkürliche Ziehen roter Linien auf der Landkarte Europas von der NATO-Mitgliedschaft ausgeschlossen werden. [...] Ich denke deshalb, daß die Atlantische Allianz im Jahr 2001, direkt nach den nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen, zu einer solchen Erweiterungsrunde in der Lage sein sollte." 41

Die Auffassung, eine NATO-Osterweiterung solle auch Teile des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion umfassen, vertritt auch der noch amtierende amerikanische Verteidigungsminister Cohen42. Hintergrund solcher Forderungen ist die Vorstellung, durch eine stringente Politik der kontinuierlichen Erweiterung der NATO westliche Interessen am besten absichern zu können, den sicherheitspolitischen Interessen der Kandidaten entgegenzukommen und der vielzitierten Furcht vor einem Wiedererstarken Rußlands langfristig wirksam entgegentreten zu können. Moskau soll - so Brzezinski - die Möglichkeit zu imperialer Politik gegenüber Staaten in seiner ehemaligen Einflußzone dauerhaft genommen werden.43 Diese sollen deshalb die Möglichkeit "of gaining assurances against the vagaries of the Russian future"44erhalten.

Hatte Rußland die erste Runde der NATO-Expansion unter anderem aufgrund der Tatsache akzeptiert, daß es durch sein Vetorecht im Sicherheitsrat die Möglichkeit gesichert sah, militärische Interventionen der NATO, die vitale russische Interessen tangieren würden, zu blockieren, so könnte der Kosovo-Krieg und die Verabschiedung der neuen NATO-Strategie, die auch künftig eine Umgehung des UNO-Sicherheitsrates ermöglicht, Rußland zum Umdenken veranlassen. Besteht für Moskau nicht mehr die Möglichkeit, militärisches Handeln der NATO zu blockieren, so kann die Allianz Rußlands vitale Interessen mißachten. Sie wird deshalb als Bedrohung wahrgenommen.

2. Die NATO "out of area" 

Die neue NATO-Strategie weist der Allianz explizit Aufgaben jenseits der kollektiven Verteidigung der territorialen Unversehrtheit ihrer Mitgliedsstaaten zu. Sowohl der militärische Schutz der Interessen der NATO-Staaten als auch die neue Aufgabe des militärischen Krisenmanagements ermöglichen ein militärisches Eingreifen jenseits des Bündnisgebietes. Der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, stellte in einem Artikel nüchtern fest "das [den Einsatz im Kosovo] machen wir beim nächsten Mal [Hervorhebung JW] 45besser." In die gleiche Kerbe schlägt der frühere NATO-Pressesprecher Jamie Shea, der vom Kosovo-Krieg als einer "Lernerfahrung" spricht. 46

Zu den Gebieten, in denen "das nächste Mal" stattfinden könnte, gehören die Länder im Transkaukasus und in Zentralasien. Hier gibt es Öl-, Gas- und andere Ressourcen, die diesen Ländern eine erhebliche strategische wie auch ökonomische Bedeutung geben. Die örtlichen Konfliktpotentiale sind groß und speisen sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Zugleich aber gehören diese Staaten zu einer von Rußland als "nahes Ausland" und als Zone vitaler russischer Interessen deklarierten Region. Dies macht die potentielle Brisanz von Krisen und Kriegen in diesen beiden Regionen für die Beziehungen Rußlands mit der NATO deutlich.

Vor allem die transkaukasischen Länder zeichnen sich durch zahlreiche regionale Konflikte aus. Moskau entging nicht, daß sowohl Aserbaidschan als auch Georgien die Art und Weise, wie die NATO-Intervention im Kosovo durchgeführt wurde, als vorbildhaft für die Lösung der eigenen Regionalprobleme darstellten.47

Folgerichtig beobachtete August Pradetto in einer Studie der Bundeswehruniversität Hamburg über die russischen Bedenken gegen den NATO-Einsatz im Kosovo: "Der Einsatz militärischer Kräfte der NATO in Kosovo, wiederum ohne Legitimation durch den UNO-Sicherheitsrat und aufgrund eines Mandats, das sich die NATO auf Basis einer von ihr definierten Unsicherheitslage und dabei zu treffenden militärischen Maßnahmen selbst erteilt, wird als Präzedenzfall für mögliche zukünftige Einsätze im unmittelbaren Vorfeld Rußlands gewertet, etwa im Kaukasus." 48

In der Tat verfolgten vor allem die USA in den letzten Jahren aggressiv eine Politik der Einmischung und Einflußsicherung in dieser Region. Die örtlichen Konflikte sollten die Ausbeutung der Ressourcen im und um das kaspische Meer nicht stören. In diesem Zusammenhang gewinnt das Programm "Partnerschaft für den Frieden" (PFP) an Bedeutung. Dieses Kooperationsprogramm der NATO mit Nichtmitgliedsländern wird von russischer Seite als Instrument zur Vorbereitung einer Einmischung der NATO in solche Länder betrachtet, die unmittelbar an der russischen Grenze liegen. Ein Dozent der Führungsakademie der Bundeswehr beobachtete: Die "'PfP'-Programme [werden] als Vehikel für die Vorbereitung möglicher VN-Missionen in der Region benutzt und [mit ihnen] gleichzeitig das 'committment' der NATO und der Vereinigten Staaten unterstrichen.49" Eine Ausdehnung der NATO, die letztlich zum Beitritt von Staaten aus der Transkaukasus-Region führt, gehört ebenso zu den Befürchtungen Rußlands, wie die Möglichkeit, daß die NATO regionale Konflikte ausnutzt, um ihre eigenen strategischen Interessen in der Region zu verfolgen.50

Im Magazin des amerikanischen Heeres wird kein Hehl daraus gemacht, daß die NATO zur amerikanischen Interessenswahrung in den PFP-Ländern benutzt werden soll: "With Russia no longer a direct threat [...] the US military has increasingly become a principal arm for the peacetime implementation of US National Security Strategy. [...] The concept of a Partnership for Peace was seen as an opportunity for the United States to influence the emerging governments in Eastern Europe." 51

Vorschläge wie etwa der von US-Verteidigungsminister Cohen, die russischen Militärbasen in Georgien, von denen im Jahr 2001 die Hälfte geschlossen werden soll, durch amerikanische zu ersetzen, tragen ebenfalls nicht zur Vertrauensbildung bei52. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, daß große Teile der russischen Eliten der Ansicht sind, "Kosovo might be a model for NATO intervention in conflicts within former Soviet territory."53

Erhebliches Konfliktpotential könnte sich vor allem ergeben, wenn von der NATO versucht würde, Sicherheitsgarantien im postsowjetischen Raum auch gewaltsam durchzusetzen. Mit Blick auf russische Versuche, Moskaus Einfluß auf ehemalige Sowjetstaaten zu wahren, warnte der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott den russischen Botschafter in Washington: "the United States will not patiently observe Russia's interference in the affairs of Georgia and Azerbaijan." Der Kommentar des Times-Journalisten William Rees-Mogg hierzu: "That is not a guarantee, but it is not far short of one."54 Sicherheitsgarantien für die Staaten dieser Region werden innerhalb der NATO offensichtlich schon länger diskutiert: "In September 1995, US Experts on Central Asia met at NATO Headquarters and cited the extensive US interests in Caspian energy deposits as a reason why Washington might have to extend its Persian Gulf security guarantees to this region. US involvement has only taken off since then."

Die Kooperationsprogramme stellen für die Plausibilisierung solcher US-Garantien den militärischen Arm dar, denn, "the USA leads manoeuvres in Kazakhstan, in most observers estimation, to further that goal of breaking [the] Russian monopoly and to cement a presence there for the defence of its oil interests. In other words, Washington seeks to demonstrate that it can project military power even into this region or into Ukraine, where NATO recently held exercises that clearly originated as an anti-Russian scenario." 55

Für die Zukunft stellt sich die Frage, inwieweit die neue republikanische Regierung gewillt ist, die bisherige US-Politik in dieser Region fortzuführen. Zudem muß zwischen dem Transkaukasus und Zentralasien unterschieden werden. Nachdem vor allem in Aserbaidschan die Ölfunde in den letzten Jahren weit geringer ausfielen, als dies von westlicher Seite zunächst erwartet wurde, könnte das US-Interesse an einer militärischen Involvierung der NATO geringer werden. Zudem ist denkbar, daß die künftige Regierung in Washington eine weniger interventionistische Politik verfolgt als die Clinton-Administration. Ohne entschiedenen Druck seitens der USA aber würde eine Intervention durch die NATO kaum unternommen werden. Von größerer Bedeutung für die Interessen der USA sind dagegen Störungen der Ressourcenausbeutung im wesentlich energiereicheren Zentralasien. Hier ist leichter vorstellbar, daß sich auch die neue Administration die Option politischer Einmischung und militärischer Intervention offenhält. Im Blick auf Zentralasien aber ist fraglich, ob die USA in der NATO das Instrument militärischen Handelns sehen würden. Die zentralasiatischen Republiken fallen militärisch in den Verantwortungsbereich des Central Commands, nicht des European Commands der US-Streitkräfte. Zudem konkurrieren die wirtschaftlichen Interessen der USA und Europas in dieser Region. Aus US-Sicht könnte unilaterales Handeln - ohne die NATO-Partner - größere Vorteile aufweisen. Die bilaterale politische Kooperation der USA mit den Staaten der Region - über PFP hinaus - weist ebenfalls in diese Richtung. Letztlich bleibt aber abzuwarten, wie die Bush-Administration die Lage einschätzt und welche Strategien sie verfolgen wird.

Moskau sieht in der offensiven Politik des Westens in seinem "nahen Ausland", die teils erheblich gegen russische Interessen verstößt, ein Zeichen, daß er "den Bau eines eindimensionalen Modells [anstrebt], bei dem die Gruppe der am meisten entwickelten Länder, sich auf militärische und wirtschaftliche Macht der USA und der NATO stützend, dominieren würde.56" Dies zu verhindern ist ein wichtiges Ziel russischer Außenpolitik. Dazu ist es aber aus russischer Sicht erforderlich, daß Moskau maßgeblich an der Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur teilnehmen kann57, und daß die von russischer Seite geforderte Stärkung der UNO, insbesondere des Sicherheitsrates als letzte Instanz internationaler Konfliktverregelung, vorgenommen wird.58 Allgemeiner gesprochen: Rußland muß verhindern, daß Alleingänge der NATO zukünftig die Regel werden.59

Auch hier könnten die Ausgangspunkte der NATO kaum unterschiedlicher sein. Immer wieder betonen die USA, aber auch Vertreter anderer NATO-Staaten, daß auch bei künftigen NATO-Einsätzen ein UNO-Mandat nicht als conditio sine qua non betrachtet werde.60 Für eine mitentscheidende Beteiligung Rußlands an einer Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur scheint es innerhalb der NATO wenig Sympathien zu geben. Klaus Naumann machte dies am Beispiel des Kosovo-Einsatzes deutlich: "Man sollte [...] schon gar nicht jemand an der Stabführung des Krisenmanagements beteiligen, der noch nicht einmal die gleichen Ziele verfolgt wie wir. Und Rußland hatte zu keiner Phase des [Kosovo-]Konflikts identische Ziele mit der NATO." Er läßt keine Zweifel daran, daß er nicht gewillt ist, Rußland zukünftig irgendwelche Mitspracherechte einzuräumen: "Wir haben ihnen [während des Kosovo-Krieges] gezeigt, daß sie keine Chance haben, Interventionen der NATO durch ein Veto Rußlands zu behindern. Und ich hoffe, Moskau hat das verstanden."61 Rußland soll ein Mitspracherecht nur dann zugestanden werden, wenn es sich auf NATO-Linie befindet.

Angesichts dieser schwierigen Konflikte und unterschiedlichen Grundauffassungen ist es dringend notwendig, Lösungen zu finden, um weitere verschärfte Konfrontationen im NATO-Rußland Verhältnis verhindern zu können.

Rußland einbinden? Rußland einbinden! 

Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Schwäche Rußlands scheint in der NATO, vor allem aber in den USA, die "Forget Russia" Schule augenblicklich zu dominieren. "This school argues that Russia simply does not matter much in the world any longer and does not merit a lot of our time, money, or effort." 62

Ein Artikel mit dem Titel "Rußland einbinden" bringt die Haltung der "Forget Russia" Schule zum Ausdruck: "Um einen selbständigen, größeren Einfluß ausüben zu können, muß zumindest eine von zwei Bedingungen erfüllt sein: Entweder ist ein Akteur wirtschaftlich stark genug, um für Verhaltensänderungen Prämissen aussetzen zu können; oder er ist militärisch so projektionsfähig, daß er Verhaltensänderungen gegebenenfalls erzwingen kann. Am besten sollten beide Voraussetzungen gegeben sein. Im Falle Rußlands trifft keine von beiden zu.63" In der Einschätzung Rußlands und damit auch des künftigen Verhaltens der NATO bei der Lösung von Konflikten kommt es teilweise zu fatalen Fehleinschätzungen. Problematisch ist es etwa, wenn am Beispiel des Kosovo-Krieges argumentiert wird, Rußland besäße kein außenpolitisches Konzept, was zur Folge habe, daß russische Interessen "so vage, uneinheitlich, gegensätzlich [seien], daß sie sich beim besten Willen nicht 'einbinden' lassen" und diese Feststellung dann generell auf die russische Außenpolitik übertragen wird.64

Zwar war die russische Politik während des Krieges nicht einheitlich, doch orientierte sie sich an den realpolitischen Voraussetzungen, Gegebenheiten, Zwängen und Fähigkeiten. Sie kann durchaus als rational bezeichnet werden. "Moscow's harsh but reasonably restrained opposition to NATO military actions against Yugoslavia is perhaps the Russian government's first major foreign policy move driven primarily by rationally interpreted Russian national interests." 65Angesichts der verstärkt rational pragmatischen Ausrichtung der russischen Außenpolitik unter Putin sollte der Umgang mit Rußland überdacht werden.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist es, Rußlands Interessen ernst zu nehmen und angemessen zu berücksichtigen.66 Trotz der derzeitigen politischen und ökonomischen Schwäche Rußlands wäre es ein Fehler anzunehmen, es besitze so gut wie keine Bedeutung mehr im internationalen System oder könne sich grundsätzlich nicht mehr erholen. Zwar hat Moskau augenblicklich kaum reale Möglichkeiten, eine unliebsame NATO-Politik zu verhindern, es bleibt aber für die westliche Politik weiterhin ein Schlüsselstaat. In für den Westen bedeutsamen Problemfeldern, wie etwa der Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln, der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität, der Funktionsfähigkeit internationaler Rüstungskontrollregime und vor allem der Stabilität im Kaukasus und in Zentralasien bleibt Rußland ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Verhandlungs- und Kooperationspartner.

Ulrich Weißer, der ehemalige Planungschef der Hardthöhe, stellt zudem richtigerweise fest: "Sicherheit und Stabilität in und für Europa gibt es nur mit und nicht gegen Rußland.67" Es wäre fatal, wenn die NATO den augenblicklichen Trend, ihre Interessen ohne Rücksichtnahme auf Rußland durchzusetzen, fortsetzen würde. "Russia will cause trouble in the international system if this is the only way to make its voice heard. In fact, Russians have a long memory, and if they do not have the capacity to act today, they will take action in the future." 68

Die Aufgabe, den Weg zu einer kooperativen Zusammenarbeit mit Rußland zu ebnen, stellt sich den westlichen Staaten in doppelter Weise. Sie besteht zum einen im Kontext der NATO und zum anderen für die sich entwickelnde Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Der Verzicht auf einseitige, nur vom Westen getragene Lösungen ist unerläßlich, will man die Perspektive einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur für ganz Europa nicht durch ein skeptisch oder gar feindlich gesinntes Rußland nachhaltig schädigen. Es gilt, die gegenwärtige, in weiten Teilen zu Kooperationsbereitschaft neigende Regierung in ihrem Kurs zu bestätigen und Rußlands Vertrauen in den Westen zu stärken, denn "der Westen spielt hier [bei der Konzeption der russischen Außenpolitik] eine besondere Rolle, [weil] die Evolution seiner Perzeption in Rußland [als ein] wesentlicher, wenn nicht gar als entscheidender äußerer Maßstab für die Evolution der modernen russischen Außenpolitik gelten" kann. 69

Militärisch ist die NATO heute signifikant stärker als Rußland. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Die Allianz kann deshalb viel leichter als Rußland und ohne Risiken einzugehen auf die andere Seite zugehen, vertrauensbildende Schritte unternehmen, einseitig politische und militärische Spannungen abbauen und Rußland signalisieren, daß seine legitimen Interessen durch den Westen ernst genommen werden. Die NATO kann und muß das ihr Mögliche tun, um in zentralen Fragen der internationalen Sicherheit mit Rußland besser kooperieren zu können. Wesentlich ist dabei, das in Rußland entstandene Bild einer aggressiven NATO nicht weiter zu verstärken, sondern zu revidieren.

Einige wenige Beispiele verdeutlichen, welcher Art Schritte sinnvoll und möglich sind: Die NATO sollte keine neue Runde der NATO-Osterweiterung einläuten. Die NATO-Rußland-Beziehungen benötigen eine Atempause ohne erneuten ernsthaften Streit, wenn sie sich positiv entwickeln sollen. Rüstungskontrollpolitische Initiativen der NATO, die die Bereitschaft zu Selbstbeschränkung und Abbau westlicher militärischer Überlegenheit erkennen lassen, könnten ebenfalls konstruktiv sein. Auch sollte ein Vorschlag des ehemaligen Chefanalytikers der amerikanischen Botschaft in Moskau in Erwägung gezogen werden, der anregte, die NATO solle in Zukunft weniger "provocative Partnership for Peace military exercises in Central Asia" durchführen.70 Zudem sollte die Allianz Militäreinsätze künftig nicht mehr ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates durchführen.

Es müssen Wege gefunden werden, um Rußland substantiell, konstruktiv und im wohlverstandenen Eigeninteresse an der Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur teilhaben zu lassen. Tobias Debiel betrachtet es als Lehre aus dem Kosovo-Krieg, daß es "die Notwendigkeit, ja den Zwang zu Kooperation und Konsenssuche mit Rußland"71 gibt. Vorrangig sind deshalb Initiativen zur Stärkung der Zuständigkeit, der Kompetenz und der Fähigkeit der OSZE, wirksam zum Konfliktmanagement beizutragen. Die Alibi-Diskussion über eine potentielle, künftige NATO-Mitgliedschaft Rußlands72 sollte dagegen beendet werden. Ein solcher Schritt ist unrealistisch und deshalb wenig hilfreich73. Es gilt, sich Gedanken darüber zu machen, ob die NATO überhaupt längerfristig die richtige Organisation für die Ausgestaltung einer europäischen Sicherheitsarchitektur ist. Celleste Wallander macht dies in einer kritischen Reflektion der NATO-Politik deutlich: "If the premise of our Russian policy was integration, political and security integration, and if Russia was one of our major security priorities, then NATO should have been the last institution that we were going to rely upon and focus on in thinking of security in Europe and Eurasia.[...] So what we did in the 1990's is that we invested [...] our diplomatic efforts, political efforts, and a lot of our relations with European countries in ensuring that NATO did not disappear, and that NATO would adapt to deal with certain kinds of security problems in Europe. We did not make those kinds of investments in the United Nations [...] and we especially wrote off and didn't pay particular attention to both European and Russian calls to develop the OSCE as the center of a post-Cold War European security structure."74

Europa und die USA müssen die Frage beantworten, ob sie bereit sind, die notwendigen Schritte zu tun, die eine wirklich partnerschaftliche Beziehung mit Rußland ermöglichen. Aufgrund des großen Zusammenhangs zwischen innen- und außenpolitischen Faktoren in Rußland sollte es ein vorrangiges Ziel des Westens sein, Rußlands ökonomische Erholung zu fördern.75 In den vergangenen Jahren wurde oft genug der Eindruck erweckt, dies - also die Stabilität Rußlands - werde insbesondere von den USA nicht gewünscht.76 Auch in der EU wird keineswegs nur eine Politik verfolgt, die eine ökonomische Erholung Rußlands befördert. So kann berechtigt die Frage aufgeworfen werden: "Wenn dem Westen wirklich daran gelegen wäre, in Rußland eine erfolgreiche Marktwirtschaft zu errichten, hätte die EU beispielsweise nicht mehr Flexibilität bei der Öffnung ihres Marktes für konkurrenzfähige Produkte aus Rußland zeigen können?"77

Die Aufgabe, Rußlands Stabilität zu fördern, besteht aber gerade auch für die EU. Aufgrund der Tatsache, daß die NATO-Politik von Rußland in den letzten zehn Jahren als immer feindlicher empfunden wurde, verschlechterte sich in gleichem Maße das Verhältnis zu den USA, die aus russischer Sicht fast ausschließlich die Politik der Allianz bestimmen. Dies hat zur Folge, daß die russische Außenpolitik deutliche Affinitäten gegenüber Europa speziell zu Deutschland und Frankreich entwickelte.78 Diese Tendenz wurde durch den Kosovo-Krieg verstärkt und dürfte wohl auch unter Präsident Putin ihre Fortsetzung finden. 79

Die europäischen Staaten sollten dieser Tendenz Rechnung tragen. "It is time to recognise that NATO cannot integrate Russia into the West. [...] EU leaders declared at the Cologne summit in June [1999] that 'a stable, democratic and prosperous Russia, firmly anchored in a united Europe [...] is essential to lasting peace on the continent. If they are serious about this then EU leaders must take it upon themselves to ensure Russia's integration into Europe through its membership in the EU.80" Dies kann, soll und wird nicht von heute auf morgen geschehen, aber damit würden Rußland perspektivisch Möglichkeiten zur Entwicklung eines dauerhaften freundschaftlichen Verhältnisses mit dem Westen geboten werden.

Eine stärkere Kooperation zwischen der EU und Rußland bietet sich geradezu an. Auch aus europäischer Sicht ist diese von Vorteil. Die anstehende EU-Osterweiterung (in der Rußland bislang anders als bei der NATO-Osterweiterung keine Bedrohung sieht) legt schon aufgrund der geographischen Nähe ein Interesse der EU an Rußlands Stabilität nahe. Deshalb sollte die bereits begonnene Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und technischen Bereichen intensiviert werden. Der Ausbau der Kooperationen kann zu stabilisierenden gegenseitigen Abhängigkeiten führen. Dies wiederum kann die Entwicklung gemeinsamer Politiken wie zum Beispiel die Entwicklung von Strategien der Krisenprävention und des zivilen Konfliktmanagements befördern. Letztlich könnten gute EU-Rußland Beziehungen in die von Moskau gewünschte Richtung einer multipolaren Welt wirken und somit in den Westbeziehungen Rußlands eine sinnvolle Ergänzung und ggf. ein Gegengewicht zu den US-dominierten NATO-Rußland Beziehungen darstellen.81

Jürgen Wagner ist Politologe und arbeitet bei IMI e.V.

Diese Forschungsnotiz wurde im Auftrag von BITS verfasst.

 

Endnoten 

1 Vgl. Babst, Stefanie: Das Ende des Stillstands? In: IFDT 3/00, S.26-34, S.27.

2 Vgl. Kobrinskaja, Irina: Der Westen in Rußland: Dimensionen des außenpolitischen Diskurses. In: Schulze, Peter W./Spanger, Hans-Joachim (Hg.): Die Zukunft Rußlands. Frankfurt/New York 2000, S.367-412, S.378.

3 Vgl. Pikayev, Alexander: The Finlandization of Russia? The Kremlin's Geopolitical and Geo-economic Choices. Programm On New Approaches to Russian Security. (PONARS) Policy Memo No. 124, April 2000.

4 Zwar wurde die westliche Politik schon ab Ende 1992 immer kritischer beurteilt, aber erst nach 1994 setzte sich die kritische Haltung bei der Mehrheit der Eliten durch. Vgl. Kobrinskaja 2000 a.a.O.,S. 380ff.

5 Vgl. Ljoschin, Michael G.: Die rußländische Sicherheitspolitik um die Jahrhundertwende. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 119, September 1999, S.9.

6 Vgl. Dannreuther, Roland: Escaping the Enlargement Trap in NATO-Russian Relations. In: Survival 41-4 Winter 1999-2000, S. 145-164, S.151.

7 Vgl. Antonenko, Oksana: Russia, NATO and European Security after Kosovo. In: Survival 41-4, Winter 1999-2000, S.124-144, S.127.

8 Vgl. Ljoschin 1999, S.24f.

9 Vgl. Graham, Thomas E. Jr.: Reflections on US Policy Toward Russia. In: East European Constitutional Review Winter/Spring 2000, S.75-82, S.78.

10 Vgl. Antonenko 1999 a.a.O., S.130.

11 Vgl. Hunter, Robert E.: Solving Russia: Final Piece in NATO's Puzzle. In: The Washington Quarterly, Winter 2000, S.115-134, S.127f.

12 Vgl. Waller, Michael J.:Russia Is Hurt That U.S. No Longer Treats It Like a "Great Power". Russia Reform Monitor No. 583, February 10, 1999.

13 Vgl. Stepanova, Ekatarina A.: Explaining Russia's Dissention on Kosovo. PONARS Policy Memo No. 57, March 1999. Dort findet sich auch eine Zusammenstellung mit Zitaten.

14 Vgl. Kozin, V.: The Kremlin and NATO: Prosects for Interaction. In: International Affairs, Vol. 46, No. 3/2000, S.12-20, S.14.

15 Vgl. Malek, Martin: Rußland und der Kosovo-Krieg. In: Reiter, Erich (Hg.): Der Krieg um das Kosovo 1998/99, Mainz 2000, S.145-156, S.153.

16 Vgl. Wallander, Celleste A.: Russian Views on Kosovo. PONARS Policy Memo No. 63, May 1999.

17 Vgl. Babst, Stefanie: Rußland und die NATO. In: Truppenpraxis/Wehrausbildung 7-8/99, S.483-489, S.488.

18 Vgl. Hunter 2000 a.a.O., S.128f.

19 Vgl. Ischinger, Wolfgang: Keine Sommerpause der deutschen Außenpolitik. Zwischenbilanz nach dem Kosovo-Krieg. In: Internationale Politik 10/99, S.59-65, S.60.

20 Vgl. Malek 2000 a.a.O., S.145, Levitin, Oleg: Inside Moscow's Kosovo Muddle. In: Survival 42-1, Spring 2000, S.130-140, S.136. Tatsächlich bemühte sich Rußland durchaus um eine Lösung (vgl. ebd., S.136ff.), wurde aber im Vorfeld des Krieges konsequent vom Konfliktmanagement ausgeschlossen. Vgl. Zumach, Andreas: Rambouillet, ein Jahr danach. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/00, S.268-274, S.269ff.

21 Vgl. Rousso, Alan: US-Russian Relations: Back on Track? Carnegie Moscow Center Briefing Paper Vol. 2, Issue 6, June 2000.

22 Vgl. Dick, Charles J.: Russia's new doctrine takes dark world view. In: Jane's Intelligence Review, January 2000, S.14-19, S.14.

23 Vgl. z. B. Graham 2000 a.a.O., S.75., Levitin 2000 a.a.O., S.138f.

24 Vgl. Die nationale Sicherheits-Konzeption. In: Osteuropa-Archiv, März 2000, S.A88-A107, S.A88.

25 Vgl. ebd., S.A92f., A103.

26 Vgl. Lorenz, Hans-Dieter: Die NATO und Rußland gehen wieder aufeinander zu. In: IAP-Dienst 3/00, S.3.

27 Vgl. Aron, Leon: Vladimir Putin: Source of his Victory and Dilemmas That He Faces. American Enterprise Institute, Russian Outlook, Spring 2000.

28 Zit. nach Rupp, Rainer: Robertson läßt die Maske fallen. In: Junge Welt vom 26.05.2000.

29 Vgl. Kozin 2000 a.a.O., S.17f.

30 Vgl. Babst 1999 a.a.O., S.483.

31 Vgl. Rahr, Alexander: Politischer Richtungswechsel in Rußland. GUS Barometer Nr. 23, Dezember 1999.

32 Vgl. Wallander, Celleste A.: Russian National Security Policy in 2000. PONARS Policy Memo No. 102, January 2000.

33 Vgl. Kramer, Mark: What is driving the New Strategic Concept? PONARS Policy memo No. 103, January 2000.

34 Vgl. Stepanova 1999 a.a.O.

35 Zit. nach ebd.

36 Vgl. Joetze, Günther: The European Security Landscape after Kosovo. ZEI Discussion Paper, Bonn 2000, S.11.

37 Vgl. Soldat und Technik 8/99, S.452.

38 Vgl. Kozin 2000 a.a.O., S.15. Zur geopolitisch-strategischen Bedeutung der baltischen Staaten für Rußland und die Auswirkungen eines NATO Beitritts dieser Länder auf Rußland vgl. IAP-Analyse: Sicherheit für Estland, Lettland und Litauen - nur in der NATO? In: IAP2/00, S.8-9.

39 Vgl. Fechner, Wolfgang: Die NATO ist kein Sozialverein. In: Truppenpraxis/Wehrausbildung 4/99, S.228-230, S.228.

40 Zit. nach Branstein, Jeremy, 1999. In: Review: New Challenges As NATO Moves East, RFE/RL 20.12.1999.

41 Politische Studien-Zeitgespräch mit Zbigniew Brzezinski über Amerikas geostrategische Herausforderungen. In: Politische Studien, Heft 368, 50. Jahrgang, November/Dezember 1999, S. 7-12, S.10.

42 Vgl. Mannteufel, Ingo: Rußland und die USA vor dem Jahr 2000. In: Osteuropa 1/00, S.31-41, S.38.

43 Vgl. Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Weilheim/ Berlin 1997, S.83.

44 Vgl. z. B. Hunter 2000 a.a.O., S.18. Zudem spielen sicher auch ökonomische Interessen, so z. B. die Hoffnung der westlichen wehrtechnischen Industrie, Gewinne aus der Anpassung der Ausrüstung der Streitkräfte neuer NATO-Mitglieder an westliche Technologiestandards zu ziehen, eine Rolle. Dieser Umrüstungsprozeß verläuft aber, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, deutlich langsamer, als von der Industrie erhofft, und verlangsamt sich weiter, nachdem die Staaten der NATO beigetreten sind. Die Transformationskosten der Beitrittskandidaten erfordern vorrangig andere Schwerpunktsetzungen bei den Staatsausgaben.

45 Vgl. Naumann, Klaus, Der nächste Konflikt wird kommen, in: Europäische Sicherheit 11/99, S.8-22, S.8.

46 Vgl. Shea, Jamie, "Kollateralschaden würde ich heute nicht mehr sagen", Interview mit Jamie Shea, in: Frankfurter Rundschau vom 25.03.00.

47 Vgl. Freitag-Wirminghaus, Rainer: Politische Konstellationen im Südkaukasus. In: APUZ B 42/99, S.21-31, S.21.

48 Pradetto, August, Konfliktmanagement durch militärische Intervention? Dilemmata westlicher Kosovo-Politik, Hamburg 1998.

49 Herrmann, Wilfried A.: Krisenregion Kaspisches Meer - Krisenregion der Zukunft? In: Europäische Sicherheit 11/99, S.45-49, S.48.

50 Vgl. Iwaschow, Leonid: "Nordkoreas Raketen? Ein Märchen." In: Die Zeit Nr. 27 vom 29.06.00.

51 Groves, John R. Jr.: PFP and the State Partnership Program: Fostering Engagement and Progress. In: Parameters. US Army War College Quarterly, Vol. XXIX, No. 1, Spring 1999, S.43-53, S.44f.

52 Vgl. Mannteufel, Ingo: Russland und die USA vor dem Jahr 2000. In: Osteuropa 1/2000, S.31-41, S.38.

53 Vgl. Antonenko 1999 a.a.O., S. 132.

54 Vgl. Rees-Mogg, William: Oil in the Flames. In: The Times vom 07.02.00.

55 Vgl. Blank, Stephen: Instability in the Caucasus: new trends, old traits - part one. In: Jane's Intelligence Review 4/98, S.14-17, S.16f.

56 Vgl. Zeitungsbeitrag des russischen Außenministers Igor Iwanow über die Außenbeziehungen Rußlands vom 20. Januar 2000. In: Internationale Politik 5/00, S.96-99, S.97.

57 Vgl. Adomeit, Hannes, Salut für eine neue Ära? Rußlands Außenpolitik nach der Präsidentenwahl, In: Informationen für die Truppe 6/00, S.34-38, S.36.

58 Vgl. Iwanow 2000 a.a.O., S.98.

59 Vgl. Mey, Holger M.: Der Kosovo-Konflikt. Eine vorläufige Analyse. In: Soldat und Technik 10/99, S.587-591, S.588f.

60 Vgl. Seifert, Andreas/Wagner, Jürgen: Die neue NATO-Strategie. IMI-Studie 3. URL: http://www.imi-online.de

61 Vgl. Naumann, Klaus: Der Gewalt nicht nachgeben. Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz. In: Truppenpraxis, Wehrausbildung, 11/99, S.732-742, 799, S.736.

62 Vgl. Graham 2000 a.a.O., S.76.

63 Segbers, Klaus: Rußland einbinden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/99, S.829-836, S.832f.

64 Vgl. ebd., S.832.

65 Vgl. Stepanova 1999 a.a.O.

66 Vgl. Hunter 2000 a.a.O., S.131.

67 Vgl. Weisser, Ulrich: Sicherheit für ganz Europa. Stuttgart 2000, S.237.

68 Vgl. Stepanova 1999 a.a.O.

69 Vgl. Kobrinskaja 2000 a.a.O., S.367.

70 Vgl. Graham 2000 a.a.O., S.81.

71 Vgl. Debiel, Tobias, Deutsche Außenpolitik jenseits der Kontinuität. Nachfragen und Lehren zum Kosovo-Jugoslawien-Krieg, in: Rohloff, Christoph (Hg.), Krieg im Kosovo - was nun?, INEF Report 38/1999, S.48-66, S.56. Ebenso argumentiert Joetze 2000 a.a.O., S.7f.

72 Vgl. Hunter 2000 a.a.O., S.121ff.

73 Vgl. Kozin 2000 a.a.O., S.12, Adomeit 2000 a.a.O., S.36.

74 Vgl. Wallander, Celleste A.: The Dynamics of US-Russian Relations: A Critical Perspective. PONARS Policy Memo No. 111, March 2000.

75 Vgl. Graham 2000 a.a.O., S.77, Hunter 2000 a.a.O., S.131.

76 Vgl. Mannteufel 1999 a.a.O., S.36.

77 Vgl. Rahr, Alexander: Rußland nach Kosovo. GUS Barometer Nr. 22 Juli 1999.

78 Vgl. Sokov, Nikolai: Russia's Relations with NATO: Lessons from the History of the Entente Cordiale. PONARS Policy Memo No. 29, August 1998.

79 Vgl. ders.: Foreign Policy Under Putin: Pro-Western Pragmatism Might Be a Greater Challenge to the West. PONARS Policy Memo No. 101, oj., Iwanow 2000 a.a.O., S.98.

80 Vgl. Yesson, Erik: NATO And Russia in Kosovo. In: RUSI Journal August 1999 Vol. 144 No. 4, S.20-26., S.21.

81 Vgl. Nassauer, Otfried: Eine europäische Flagge. SPW Dez. 2000. URL (eingesehen am 25.12.00): http://www.bits.de/public/articles/spw1200.htm

 


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