Die Erweiterung der NATO und ihr Verhältnis zu Rußland Ulf Terlinden This report is also available as a PDF-File
Mit der Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns hat die NATO am 12. März 1999 formal die erste Runde der Aufnahme ehemaliger Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes (WP) vollzogen. Während des Washingtoner Gipfels im April 1999 hat das Bündnis sich auf eine "Politik der offenen Tür" festgelegt, die allen interessierten Staaten im Grundsatz die Möglichkeit eines Beitritts eröffnet. Für die Zeit bis 2002 hat sich die Allianz allerdings eine "Denkpause" verordnet - ihr Zeitplan sieht die Auswertung der ersten Erweiterungsrunde vor, auf deren Grundlage dann über künftige Schritte der Ostausdehnung entschieden werden soll. Begleitet war die Entwicklung hin zu dieser Runde der Erweiterung der Atlantischen Allianz von vehementem Protest Rußlands, das eine Ausdehnung der NATO Richtung Osten strikt ablehnt und mit Gegenmaßnahmen gedroht hatte. Jenseits der verbalen Attacken jedoch blieben konkrete Schritte in Reaktion auf die nun vollzogene Aufnahme bislang aus1. Dennoch befindet sich das Verhältnis wegen der Kosovo-Intervention der NATO auf einem Tiefpunkt. Rußland hat die Kooperation mit der NATO in der Folge auf ein Minimum reduziert. In Rußland stehen in der ersten Jahreshälfte 2000 Präsidentschaftswahlen bevor, deren Ausgang von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Beziehungen zur NATO sein wird. Die Niederlage der Kommunisten bei der Duma-Wahl im Dezember 1999 hat grundsätzlich die Möglichkeit einer deutlichen Verbesserung des Verhältnisses eröffnet, denn in der kommunistischen Fraktion finden sich viele der schärfsten Gegner der NATO-Osterweiterung (und der NATO-Angriffe auf Jugoslawien). Ein ähnliches und mit der Zusammensetzung der Duma harmonisierendes Ergebnis der Präsidentschaftswahl könnte auf russischer Seite die Grundlage und den Anlaß für einen Neuanfang in den Beziehungen zur NATO bieten. Die Allianz steht daher vor der Herausforderung, bei der Auswertung der ersten Erweiterungsrunde eine politische Strategie zu entwickeln, die dieser Chance Rechung trägt. Von der Qualität und Zukunft des Verhältnisses zwischen dem Atlantischen Bündnis und der Russischen Föderation als einer zentralen Determinante der europäischen Sicherheit hängt dabei letztlich ab, ob die NATO die in ihrer Erweiterungsstudie ("Study on Enlargement" 1995) selbst formulierte Zielsetzung erreichen kann, daß mit der Osterweiterung ein "realer Sicherheitsgewinn" verbunden sein müsse. Aus Anlaß der Orientierungsphase sowohl in den innenpolitischen Verhältnissen Rußlands als auch in der Erweiterungspolitik der NATO wird nachfolgend eine bilanzierende Analyse des Konfliktes um die erste Runde der Osterweiterung vorgenommen. Es werden die Verletzungen und Berücksichtigungen der russischen Interessen sowie jene "Hypotheken" bestimmt, mit denen die NATO-Politik die gegenseitigen Beziehungen weiterhin belastet. Die in Frage stehenden Optionen der zukünftigen Erweiterung werden einer Bewertung im Lichte der NATO-Rußland-Beziehungen unterzogen. Schließlich sollen die Chancen und Herausforderungen aufgezeigt werden, vor denen die NATO und Rußland in der jetzigen Orientierungsphase stehen. 1. Die Entwicklung bis zum Abschluß der ersten Erweiterung Die Zäsur von 1989 und die offizielle Auflösung des Warschauer Paktes im Juli 1991 eröffneten die grundsätzliche Möglichkeit einer Erweiterung der NATO nach Osten. Schon im Februar 1990 trug Ungarn sein Interesse an einem NATO-Beitritt vor, 1991 forderten der polnische Präsident Lech Walesa und einige baltische Politiker die Aufnahme ihrer Länder in die nordatlantische Allianz (Pradetto/Alamir 1998, 17, Alamir 1999b, 47 und Piper 1999, 11). Bis Mai 1997 erklärten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik, Slowenien, Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und Albanien ihr Interesse an einem NATO-Beitritt. Anfangs reagierte die NATO auf die Begehren mittel- und osteuropäischer Staaten nach Aufnahme nur zögerlich mit einer Institutionalisierung der Beziehungen (vgl. 3.1). Zum ersten Mal offen unterstützt wurde das Bestreben der Aspiranten vom deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe auf einer informellen NATO-Tagung im Oktober 1993 in Travemünde. Zusammen mit Belgien, Norwegen und den Niederlanden schlug er die direkte Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) vor, fand aber keine Zustimmung bei den anderen NATO-Staaten. V.a. der amerikanische Verteidigungsminister Les Aspin wollte den Beitrittsgesuchen zunächst mit dem Angebot der "Partnerschaft für den Frieden" (PfF) begegnen und lehnte konkrete Stellungnahmen zur Erweiterung des Bündnisses ab. Allerdings wurde die aktive Teilnahme an der PfF im amerikanischen Vorschlag "als Voraussetzung für die künftige Mitgliedschaft bewertet", auch wenn aus ihr kein Anspruch auf Aufnahme abzuleiten sei. (Broer 1996, 305 und 306) In der Einladung zur PfF vom 11. Januar 1994 wurde die grundsätzliche Öffnung der NATO deutlich:
Weiter umstritten blieben das Auswahlverfahren, der Umfang und Ablauf sowie der Zeitpunkt der Erweiterung. Im Mai 1994 forderte Rühe als erster westlicher Politiker die Aufnahme der 4 Visegrad-Staaten (Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn) bis zum Jahr 2000 (vgl. Koch 1996). Während der Tagung der NATO-Außenminister am 01.12.1994 wurde die Durchführung der "Study on Enlargement" (1995) beschlossen, deren Ergebnisse im September 1995 veröffentlicht wurden. Im Kern legt die Studie die Auswahlkriterien für die Aufnahme von Staaten und die Ziele der Osterweiterung fest. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß durch die Erweiterung ein Sicherheitsgewinn sowohl für die NATO als auch für den gesamten "euro-atlantischen Raum" erzeugt werden müsse, neue "Trennlinien" durch Europa also verhindert werden müßten. Zugleich müsse die Funktionsfähigkeit der NATO, und das heißt vor allem die "Verteidigungsgarantie" nach Artikel 5 des Atlantischen Vertrages und der innere Zusammenhalt des Bündnisses, erhalten bleiben. Die Wahlkampfrede Präsident Clintons im Oktober 1996 in Detroit bildete den Scheitelpunkt einer außenpolitischen Wende in den Vereinigten Staaten, die schon durch den amerikanischen Druck in Richtung einer raschen Durchführung der Erweiterungsstudie erkennbar geworden war. Der Präsident sprach sich für den Beitritt der ersten Kandidaten bis zum April 1999 aus und nannte damit erstmals ein konkretes Datum. Die Rede löste einen "Wettlauf" der Bewerber um die Mitgliedschaft aus, über die schließlich während des Gipfels in Madrid im Juli 1997 entschieden werden sollte. (Defense Monitor 1998) Im Dezember 1996 wurde auf Drängen mehrerer Aspiranten ein "intensivierter Dialog mit interessierten PfP-Staaten" begonnen, an dem die zwölf an einer Mitgliedschaft interessierten Staaten teilnahmen (s.o.) (Höfler 1998, 255). Am 12.06.1997 verkündete Präsident Clinton, daß die USA zunächst nur den Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik befürworteten. In Madrid wurde die offizielle Einladung zum Beitritt der drei Staaten ausgesprochen. Verbunden damit war die Erklärung, die "Tür des Bündnisses" bleibe offen. Während der Außenministertagung der NATO am 16.12.1997 wurden die Beitrittsprotokolle der neuen Mitglieder unterzeichnet. Nach ihrer Ratifizierung durch die nationalen Parlamente der drei Staaten wurde der Beitritt am 12.03.1999 vollzogen. 2. Die russische Position zur Osterweiterung der Allianz Die russische Regierung lehnt die Osterweiterung der NATO ab. Diese Grundeinschätzung, die aus heutiger Sicht relativ eindeutig getroffen werden kann, steht jedoch erst am Ende eines längeren Prozesses der Positionsbestimmung, in dessen Verlauf ein erheblicher Kurswechsel und Widersprüche in der russischen Regierungspolitik zu beobachten waren. Im August 1993 stimmte Präsident Jelzin während seines Besuchs in Polen dessen Beitritt zur NATO noch zu (Hacke 1997, 233). Einen Monat später revidierte Jelzin seine Position in einem Brief an die Regierungen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands mit der Begründung, die Osterweiterung der Allianz könne "das Gefühl einer Isolation in der russischen Gesellschaft" hervorrufen. Die Haltung der russischen Regierung scheint zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr verhärtet gewesen zu sein, denn ebenfalls im September versicherte Außenminister Kosyrew seinem ungarischen Amtskollegen, die Mitgliedschaft Ungarns in der NATO verstoße nicht gegen die Interessen der Russischen Föderation. Trotz dieser widersprüchlichen Äußerungen wurde die grundsätzliche Ablehnung der Erweiterung deutlich. Erklärt wird diese politische Wende vor allem mit "innenpolitischem Druck" auf Jelzin und Kosyrew, der von der "überwiegenden Mehrheit des russischen Establishments" ausging und im Laufe des Jahres 1994 stetig stieg (Schmeljow 1996, 141-145). Odom (1996) verortet die Urheber dieses Drucks bei "Hardlinern" im russischen Militär und der Duma. Im Februar 1995 sagte Jelzin, Rußland beanspruche zwar kein Vetorecht bei der Bündniserweiterung, werde aber einer "übereilten" Ausdehnung der NATO nicht zustimmen. (Schmeljow 1996, 145) Deutlicher äußerte sich der russische Verteidigungsminister Gratschow. Er drohte im November 1995 für den Fall einer Osterweiterung der NATO mit der Schaffung neuer militärisch-politischer Bündnisse mit Staaten in Mittel- und Osteuropa, der GUS oder "ziemlich starken Partnern" im Osten (gemeint sind v.a. China und Indien). Zudem deutete er an, Moskau könne die Ratifizierung des START-II-Vertrages überdenken (Schmeljow 1996, 146). Laut Hacke (1997, 234) soll er sogar gesagt haben, die Osterweiterung würde "letztendlich Krieg bedeuten". Das Moskauer "Institut für Verteidigungsstudien" empfahl als Gegenmittel zur Osterweiterung die Stationierung taktischer Nuklearwaffen im Westen der GUS, eine Überlegung, von der das "Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien" (BIOST, Köln) vermutet, daß sie zumindest die Stimmung führender russischer Politiker wiedergab. Weiter berichtet BIOST, auch die "Verstärkung von Streitkräftegruppierungen im Norden, Westen und Südwesten" werde in Rußland als mögliche militärische Gegenwirkung erwogen (BIOST 1997, 235/236). Auch die Parteien Rußlands lehnen die Osterweiterung der NATO in ungewöhnlicher Einmütigkeit ab (Schmeljow 1996, 149). Und in der Bevölkerung wird sie laut Bischof (1996, 25) als Gefahr wahrgenommen. Dennoch habe das Thema weder während des Duma-Wahlkampfes 1995 eine große Rolle gespielt, noch sei dies für den Präsidentschaftswahlkampf zu erwarten gewesen. Der "Rat für Außen- und Verteidigungspolitik" hatte dagegen im Mai 1995 vor Veränderungen in der russischen Innenpolitik durch die NATO-Osterweiterung gewarnt, die "Rußland in eine revisionistische Macht verwandeln würden" (Karaganov u.a. 1995, 168). Alexei Arbatov, ein führender Vertreter der "Yabloko"-Fraktion in der Duma, sagte, die Osterweiterung der NATO würde die russische Demokratie zwar nicht zerstören, aber es würden schließlich jene für diese "Niederlage" aus russischer Sicht verantwortlich gemacht, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem Westen ausgesprochen haben. Dies bedeute Verluste für die reformorientierten Demokraten und Zulauf für Nationalisten und Kommunisten (Arbatov 1998, 3).
Die Gründe der Ablehnung Die vielfachen russischen Vorbehalte werden vor allem mit der drohenden Isolation Rußlands durch die Allianzerweiterung (Schmeljow 1996, 145) begründet. Der "Gürtel" neutraler bzw. schwach bewaffneter Staaten in Mitteleuropa, der bisher zwischen der NATO und Rußland lag, falle zunehmend weg und beeinträchtige die geopolitische Lage Rußlands (Karaganov u.a. 1995, 163 und 168/169). Diese als Bedrohung wahrgenommene Entwicklung wird besonders deshalb als problematisch angesehen, weil Rußland in erster Linie an der Entwicklung guter Beziehungen zu den führenden westlichen Staaten interessiert sei, um geeignete Rahmenbedingungen und ggf. Unterstützung bei seinen Transformationsbemühungen zu erhalten2. Zudem bedeute die Osterweiterung eine neue Teilung Europas und gefährde die "Vertrauensbildung" (Bischof 1996, 24). Mit der Osterweiterung sei eine "gewisse historische Ungerechtigkeit" verbunden, da zunächst die Sowjetunion und dann Rußland freiwillig eine Reihe von Schritten unternommen haben, um die sicherheitspolitische Situation in Europa zu verbessern. Diesen Vorleistungen werde nun mit der Verletzung der Sicherheitsinteressen Rußlands und dem "Vorrücken" der NATO in Richtung Osten nicht Rechnung getragen, was insbesondere die russische Bevölkerung als Ungerechtigkeit empfinde (Kokoschin 1996, 230 und Arbatov 1998, 2). Dieses Argument steht in enger Verbindung mit den Vorwürfen, die die Regierung Jelzin unter Berufung auf Aussagen Michael Gorbatschows erhob: Der Abzug russischer Truppen aus der ehemaligen DDR und die Zustimmung Rußlands zur Vereinigung Deutschlands sei erfolgt, nachdem die NATO versprach, dort keine Truppen zu stationieren. Nun würde diese Vereinbarung dadurch verletzt, daß die NATO auf polnisches Territorium ausgedehnt würde, das noch näher als Ostdeutschland an Rußland liegt. Die NATO-Staaten stellen sich dagegen auf den Standpunkt, daß diese Vereinbarung nur Ostdeutschland betroffen habe, was sachlich korrekt sein mag, die russische Seite aber nicht überzeugen kann (Lieven 1996, 20). Den Hintergrund der russischen Haltung in der Frage der Osterweiterung der NATO bildet die russische Sicht auf die künftigen Strukturen europäischer Sicherheit insgesamt. Rußland sieht sich weiterhin als Großmacht und erhebt den Anspruch, diese Strukturen maßgeblich mitzugestalten. In der russischen Außenpolitik werden die OSZE und die UNO als tragende Institutionen der europäischen Sicherheitspolitik bevorzugt. So wurde der Vorschlag geäußert, "der NATO im Rahmen der OSZE eine gewisse Rolle" zuzuweisen (Bischof 1996, 26 und ähnlich Schmeljow 1996, 145/146). Aus russischer Perspektive unterscheidet UNO und OSZE von der NATO außer der zugrundeliegenden sicherheitspolitischen Konzeption vor allem die Tatsache, daß Rußland Mitglied in den erstgenannten ist, bei der NATO aber von allen Entscheidungen ausgeschlossen ist. Die Osterweiterung der NATO setzt im deutlichen Widerspruch zur russischen Sicht ein klares Signal der Präferenz des Westens (und zudem der MOEL) für die NATO und demonstriert Moskau zugleich, daß sein Anspruch auf die Mitgestaltung der europäischen Sicherheitsstrukturen nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße geteilt wird. (Schmeljow 1996, 150) Trotz der fortwährenden grundsätzlichen Ablehnung der NATO-Ostausdehnung scheint sich in Moskau eine gewisse Akzeptanz für jene Erweiterungsrunde eingestellt zu haben, die schließlich im März 1999 vollzogen wurde. Die Einsicht, daß dieser Schritt nicht mehr verhindert werden konnte, ist verbunden mit der Hoffnung, daß der Erweiterungsprozeß damit abgeschlossen oder zumindest für lange Zeit unterbrochen sein könnte. Auf dieser Ebene unterhalb der totalen Opposition gegen die NATO-Erweiterung kann eine Reihe von Möglichkeiten identifiziert werden, mit denen der Ausdehnungsprozeß aus russischer Sicht "erträglicher" gestaltet werden könnte3:
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