Research Report
September 1998

Künftige Möglichkeiten der Rüstungskontrolle Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der KSE-Anpassungsverhandlungen

Otfried Nassauer
Oliver Meier
Gerhard Pieper

1 Einleitung

1.1 Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen und Rüstungskontrolle in Europa

1.2 Zu Aufgabenstellung und konzeptionellem Ansatz

1.3 Beschränkungen des Ergebnisses

2 Rüstungskontrolle bei Massenvernichtungswaffen

2.1 Nukleare Waffen

2.1.1 Rahmenbedingungen

2.1.2 Sachstand "Nukleare Abrüstung"

2.1.3 Sachstand "Nichtverbreitungsregime"

2.1.4 Weitere Elemente des Nichtverbreitungsregimes

2.1.5 Optionen nuklearer Abrüstung und Nichtverbreitung

2.1.6 Konstruktive Handlungsoptionen für die Bundesrepublik

2.1.7 Der Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (UVNV)

2.1.7.1 Sachstand und Rahmenbedingungen

2.1.7.2 Rüstungskontrollpolitische Handlungsmöglichkeiten

2.1.8 Verbot der Produktion von spaltbarem Material

2.1.8.1 Sachstand und Rahmenbedingungen

2.1.8.2 Absehbare Probleme

2.1.8.3 Rüstungskontrollpolitische Handlungsmöglichkeiten

2.2 Verhandlungen der Ad Hoc Gruppe der Mitgliedsstaaten des B-Waffen Übereinkommens (BWÜ)

2.2.1 Sachstand und Probleme

2.2.2 Empfehlungen

2.3 Das C-Waffen-Verbotsabkommen

2.3.1 Sachstand

2.3.2 Rüstungskontrollpolitische Optionen

2.3.2.1 Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz

2.3.2.2 Hilfen bei der Zerstörung chemischer Waffen

2.4 Ein deutsches Nunn-Lugar-Programm?

3 Konventionelle Abrüstung

3.1 KSE

3.1.1 Hintergrund

3.1.2 Auf dem Wege zu KSE-2

3.1.3 Wesentliche Problembereiche und Lösungsansätze

3.1.3.1 Staaten, Gruppen und die NATO-Osterweiterung

3.1.3.2 Die Flexibilitätsfrage

3.1.3.3 Die Flankenfrage

3.1.3.4 Fliegende Waffensysteme

3.1.4 Rüstungskontrollpolitische Optionen

3.1.5 Handlungsoptionen

3.2 Landminen

3.2.1 Rahmenbedingungen

3.2.2 Rüstungskontrollpolitische Optionen - Ottawa II

3.2.3 Auf dem Wege zu Ottawa III

3.2.4 Munitionen

3.3 Kleinwaffen

3.3.1 Rahmenbedingungen

3.3.2 Handlungsoptionen

3.4 Humanitäres Kriegsvölkerrecht

4 Aktuelle Daten zum KSE-Regime - 1998

5 Anhang: Einige wichtige künftige Termine


Einleitung

Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen und
Rüstungskontrolle in Europa

Rüstungskontrolle und Abrüstung stehen in den kommenden ein bis zwei Jahren an einer Wegscheide. Dies gilt für beide traditionell bedeutsame Felder der Rüstungskontrolle in Europa, nukleare und konventionelle Abrüstung.

Im nuklearen Bereich ist es der Clinton-Administration in den bislang sechs Jahren ihrer Amtszeit nicht gelungen, über die von der Vorgänger-Administration Bush vereinbarten Abkommen hinaus tiefere Einschnitte in die nuklearen Potentiale Rußlands und der USA zu vereinbaren. Lediglich Rahmendaten für ein künftiges START-III-Abkommen stehen hier auf der Habenseite. Zugleich haben US-Senat und russische Duma den Weg zu weiterer Abrüstung bislang erfolgreich blockiert und drohen, dies auch weiterhin zu tun. Bei der Abrüstung taktisch-nuklearer Waffen gilt Ähnliches. Noch stellen die einseitig-gegenseitig politisch bindenden Abrüstungserklärungen der Präsidenten Bush und Jelzin aus dem Jahre 1992 den Stand der Dinge dar; Hoffnungen, auch diese Vereinbarungen in rechtlich verbindliche Form gießen zu können, haben sich bislang nicht erfüllt. Der lange Stillstand ohne substantiellen Fortschritt muß in naher Zukunft aufgebrochen werden; gelingt dies nicht, so drohen dauerhaft negative Rückwirkungen auf das Verhältnis der USA zu Rußland, aber auch in den NATO-Rußland-Beziehungen.

Auch bei der konventionellen Rüstungskontrolle ergibt sich ein vergleichbares Bild. Trotz gravierender Veränderungen auf der politisch-militärischen Landkarte des europäischen Kontinents - die Anpassung des gleich nach Ende des Kalten Krieges vereinbarten Rüstungskontrollregimes für konventionelle Waffen, des KSE-Vertrages, ist ins Stocken geraten. Und mit ihr die Arbeit an einer europäischen Sicherheitsarchitektur für das 21. Jahrhundert. Auch hier wird in den kommenden 12 Monaten ein Durchbruch erforderlich sein, wenn negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der NATO und Rußland verhindert werden sollen.

Der Stillstand bei der Rüstungskontrolle ist kein Zufall. Er ist die Konsequenz einer Entscheidung über die Schwerpunktsetzung westlicher Politik.

Im Zentrum der westlichen Politik zur Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur steht seit Jahren - spätestens seit 1993 - unter Führung der USA eine Politik des "NATO-First". Kern dieser Politik ist es, bei allen anstehenden Entscheidungen zur europäischen Sicherheit vorrangig darauf zu achten, daß diese zu einer Stärkung der Legitimation und zentralen Rolle des Bündnisses in Europa beitragen, und daß keine eigenständige sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit neben der NATO entsteht. Handlungen anderer Akteure sollen von der NATO so weitgehend wie möglich mitbestimmt und beeinflußt werden können. Zugleich wird jede Möglichkeit der äußeren Mitbestimmung über die Entscheidungen der NATO vermieden.

Dies zeigte sich in allen wesentlichen Diskussionen über die Zukunft europäischer Sicherheit seit 1990, so in den Debatten über

die künftige Rolle von OSZE und NATO zu Beginn der neunziger Jahre

die erweiterten Aufgaben der NATO seit Ende des Golfkrieges

Friedensmissionen und die Rolle von WEU/EU und NATO, gefolgt von der Diskussion über Combined Joint Task Forces (CJTFs)

die geographische Ausdehnung der NATO und vor allem auch über das

NATO-Rußland-Verhältnis.

In der Konsequenz bedeutet die "NATO first" Politik: NATO-Osterweiterung geht vor NATO-Rußland-Beziehungen; Erweiterung des Aufgabenfeldes der NATO um "friedensunterstützende Maßnahmen" geht vor OSZE-Stärkung (trotz der Formel OSZE first); NATO-Kontrolle über CJTFs geht vor Handlungsfähigkeit der WEU; militärische Flexibilität und Handlungsfreiheit der NATO geht vor Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Besonders deutlich wird dies, betrachtet man das Verhältnis von NATO-Osterweiterung und NATO-Rußland-Beziehungen. Die Priorisierung der NATO-Osterweiterung durch die bislang vorherrschende offizielle Politik war und ist eine Falsche, unabhängig davon, ob man der Ausdehnung des Bündnisses inhaltlich positiv oder negativ gegenübersteht.

Wer europäische Sicherheit rund um die Osterweiterung der NATO gestalten will, der setzt darauf, ein seit Jahrzehnten agierendes System kollektiver Verteidigung (kollektiven militärischen Handelns) zu erhalten und auszudehnen. Oder er hofft darauf, das Bündnis gegen die systemimmanenten Widerstände und Probleme langfristig in ein System kollektiver Sicherheit umbauen zu können.

Dies macht deutlich, daß die Befürworter der Osterweiterung bezüglich ihrer langfristigen Zielsetzungen im Blick auf die NATO tief gespalten sind.

Ein Teil will, daß eine erweiterte NATO mit der Hauptaufgabe kollektive Verteidigung Sicherheit gegen ein möglicherweise künftig wieder erstarkendes Rußland organisiert. Zugleich soll die Allianz mit Nebenaufgabe fähig sein, andere Bedrohungen, zum Beispiel solche durch proliferierte Massenvernichtungswaffen, glaubwürdig abzuschrecken bzw. zu bekämpfen. Deutlich plädieren die Befürworter dieser Haltung für eine langsame Erweiterung der NATO, die die militärische Handlungsfähigkeit sichert. Deutlich befürworten sie eine mehr oder minder rigide Begrenzung der Zusammenarbeit mit Rußland. Informationsaustausch über Fragen der europäischen Sicherheit und bereits getroffene NATO-Entscheidungen - ja, gemeinsame Entscheidungsfindung oder gar gemeinsame Entscheidungen und gemeinsames Handeln - nein. Jesse Helms, der konservative Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, steht für diese Position.

Zugleich gibt es aber auch eine andere Gruppe von Befürwortern der NATO-Osterweiterung: Sie wollen die Allianz erweitern und gleichzeitig kontinuierlich transformieren. Aufgaben kooperativer und kollektiver Sicherheit sollen zunehmend gleichberechtigt neben die Aufgabe kollektiver Verteidigung treten. Die NATO soll neben der Verteidigung des Bündnisgebietes Aufgaben im Bereich der Friedenserhaltung, Friedenssicherung und Friedenserzwingung wahrnehmen. "Verteidigt" werden sollen neben dem Bündnisterritorium auch die regionalen und weltweiten Interessen der NATO-Staaten. Militärische Bekämpfung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Terrorismus erhalten einen großen Stellenwert. Europäische Sicherheit soll, wo immer möglich, durch Konsultationen und in Kooperation mit Rußland gestaltet werden. Letztlich schließen etliche Vertreter dieser Position - und darunter sind auch wichtige Mitglieder der Clinton-Regierung - auch einen künftigen Beitritt Rußlands zur NATO zumindest rhetorisch nicht von vornherein aus. Die Allianz soll - so diese Befürworter - immer mehr zu einer von den Fragestellungen und Aufgaben kooperativer und kollektiver Sicherheit geprägten Organisation werden. Liberale Demokraten in den USA sowie viele Sozialdemokraten und Grüne in der Bundesrepublik folgen dieser Argumentation.

Auffällig ist: Beide Gruppen haben so gegensätzliche längerfristige Ziele und Vorstellungen über die Zukunft der NATO und damit der europäischen Sicherheit, daß nur eine ihre Zielvorstellungen wird durchsetzen und erreichen können. Die andere wird sich über kurz oder lang eingestehen müssen, daß sie einer Fata Morgana gefolgt ist und ihre Zustimmung zur Erweiterung des Bündnisses auf Grundlage falscher Annahmen gegeben hat.

Zugleich können die Befürworter der NATO-Osterweiterung aufgrund dieser unterschiedlichen Zielsetzungen auf zwei Fragen keine oder keine kohärente Antwort geben: Zum einen können sie nicht sagen, welche Staaten die Allianz in ihrem Endausbaustadium umfassen soll und welche Staaten außen vor bleiben sollen. Zum zweiten können sie keine einheitliche, schlüssige Antwort auf die Frage geben, welche Aufgabe und Funktion die NATO künftig erfüllen soll und wie sich in diesem Kontext die Aufgabenbereiche der Landes- und Bündnisverteidigung, der Verteidigung der Interessen der Bündnismitglieder und der sogenannten friedensunterstützenden Maßnahmen zueinander verhalten sollen. Aus dieser Situation heraus werden weitreichende rüstungskontroll- und abrüstungspolitische Entscheidungen und Initiativen gemieden; sie könnten sich später als Nachteil und hinderlich erweisen.

Eine Politik des "OSZE first" bei gleichzeitiger, konsequenter Transformation der NATO zu einem Instrument der Umsetzung kooperativer und kollektiver Sicherheit würde dagegen für die Absicht stehen, europäische Sicherheit vorrangig nach den Prinzipien kollektiver und kooperativer Sicherheit zu organisieren. Wer dies will, der wird ganz andere Prioritäten setzen. Hier wird die gemeinsame Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch alle Beteiligten im Vordergrund stehen. Dies bedeutet vor allem die Einbeziehung Rußlands in alle wesentlichen Beratungs- und Entscheidungsprozesse. Es bedeutet die Maximierung der Möglichkeiten zu Konsultation und Kooperation. Es bedeutet die Nutzung aller sich bietenden Chancen der Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Die Entscheidung, das NATO-Rußland-Verhältnis als Kernfrage der Gestaltung europäischer Sicherheit zu betrachten und nicht die Frage der NATO-Osterweiterung stellt eine strategische Weichenstellung dar. Alle nachgeordneten Problemkreise, zum Beispiel aus den Bereichen konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle, werden in der Konsequenz unter anderem Vorzeichen betrachtet und neue bzw. andersartige Lösungsoptionen erscheinen möglich. Wer Sicherheit mit Rußland gestalten will, kann andere Wege gehen als der, der Sicherheit vor oder gar gegen Rußland sucht.