Tagungsdokumentation Bad Boll
22. Mai 2000

 

Die neue NATO - einige kritische Anmerkungen
 von Otfried Nassauer

 

Ein großer, feierlicher Gipfel sollte es werden: 50 Jahre nach ihrer Gründung wollte die NATO vom 23.-25. April 1999 in Washington auf ihre Erfolge zurückschauen und die Weichen für eine ebenso erfolgreiche Zukunft stellen. Drei neue Mitglieder sollten erstmals dabeisein. Die Aufnahme weiterer Staaten sollte durch einen Aktionsplan vorbereitet werden. Eine Vision für die NATO des 21. Jahrhunderts sollte verabschiedet, eine neue Strategie beschlossen werden. Der Washingtoner Gipfel - ein Signal für den Aufbruch der erweiterten Allianz ins 21. Jahrhundert - mit erweiterter Aufgabenstellung, erweiterten Funktionen und neuer Legitimation. Der Washingtoner Gipfel - ein Zeichen dafür, daß die Europäische Sicherheitsarchtiketur der Zukunft auf dem Fundament der NATO ruhen und die Allianz zugleich der Kern einer solchen Struktur sein werde. So war es geplant.

Es kam anders. Der Jubiläumsgipfel der NATO wurde ein Krisengipfel. Erstmals seit der Gründung befand sich das Bündnis im Krieg - zudem in einem nicht-erklärten und durch die internationale Staatengemeinschaft nicht legitimierten Krieg. Einem Krieg, in dem es für die NATO und ihre künftige Rolle in Europa um sehr viel ging, namentlich um die Glaubwürdigkeit der Allianz. Der Krieg um das Kosovo war das beherrschende Thema. Ein anderes, kaum weniger wichtiges fand dagegen kaum Beachtung: Der wichtigste Partnerstaat der NATO - Rußland - hatte seine Teilnahme vollständig abgesagt - aus Protest gegen die von der UNO nicht mandatierten Angriffe der NATO auf das ehemalige Jugoslawien. Die große Feier sie fiel aus.

Heute, fast ein Jahr später, bietet es sich an, zurückzuschauen und erste Teile einer Zwischenbilanz zu ziehen. Der Krieg um das Kosovo wurde mühsam von der Europäischen Union unter Mithilfe Rußlands, der Vereinten Nationen und der G8 beendet. Die NATO hat sich zum Sieger erklärt, Slobodan Milosevic man sollte das nicht vergessen - ebenfalls. Truppen unter Führung der NATO stehen im Kosovo nunmehr mit einem Mandat der Vereinten Nationen. Die Zukunft aber ist ungewiß. Weitere Waffengänge auf dem Balkan sind nicht ausgeschlossen. Der Kosovo bleibt ein Pulverfaß. Ein Konflikt zwischen Serbien und Montenegro um die montenegrinische Unabhängigkeit kann jederzeit ausbrechen; Nadelstich-Operationen großalbanischer Nationalisten können in Südserbien, im Kosovo oder anderswo Unruhe und neue Kämpfe schüren. Im ehemaligen Jugoslawien herrscht immer noch Slobodan Milosevic. Es ist nicht erkennbar, daß und wann er durch eine zersplitterte Opposition abgelöst werden könnte. Der Stabilitätspakt, mit dem der Westen den Balkanstaaten eine politische und vor allem wirtschaftliche Perspektive und einen Anreiz zur friedlichen Konfliktbewältigung geben wollte, bleibt deutlich hinter den Ankündigungen wie hinter den geweckten Erwartungen zurück. Die Beziehungen zu Rußland sind trotz der russischen Beteiligung im Kosovo weiter gespannt. Rußland rechtfertigt seinen eigenen Krieg in Tschetschenien, indem es der NATO den Spiegel ihrer Legitimation des Kosovo-Krieges vorhält. Signifikante transatlantische Spannungen kündigen sich an: Aus europäischer Sicht gefährden die USA die Zukunft der Rüstungskontrolle. Aus amerikanischer Sicht gefährden die europäischen Pläne für ein eigenständiges Krisenmanagement der EU den Vorrang der NATO. Und zweierlei fällt auf:

Erstens: Nachträgliche Rechtfertigung des eigenen Vorgehens während des Krieges oder selbstkritiklose Siegermentalität überwiegen gegenüber selbstkritischer Reflektion. Und zweitens: Die Lehren, die lessons learned, die in den USA und in den europäischen NATO-Staaten vorgetragen werden, sind allein oder weit überwiegend darauf gerichtet, wie die militärischen Krisenmanagementfähigkeiten künftig ausgebaut und verbessert werden Können. Eine kollektive Reflektion über die Notwendigkeit der Stärkung von Krisenprävention und nicht-militärischer Krisenverhinderung findet ebensowenig statt wie eine kritische Auswertung des westlichen Vorgehens im Vorfeld des Krieges. Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren: Soweit öffentlich beobachtbar nicht einmal der potentiell nächsten Balkankonflikt Montenegro wird systematisch mit nicht-militärischen Mitteln verhindert.

Dies ruft Fragen hervor: Hat sich die NATO in Washington die richtige Strategie für die Zukunft gegeben, die politischen Weichen richtige gestellt? Hat das Bündnis zukunftsweisende Antworten auf die entscheidenden Fragen gefunden? Sicher ist es zu früh für eine umfassende Bewertung doch auch hier ist eine kritische Zwischenbilanz möglich. Blicken wir zunächst zurück auf die Entstehungsgeschichte der neuen NATO-Strategie:

 

Die neue NATO-Strategie

Das Vorhaben, die Strategie der NATO zu überarbeiten, geht auf die Grundlagenakte zwischen der NATO und Rußland zurück, die im Mai 1997 in Paris unterzeichnet wurde. Dort heißt es: "Die NATO-Staaten haben beschlossen, das Strategische Konzept der NATO zu überprüfen, um sicherzustellen, daß es in voller Übereinstimmung mit der neuen Sicherheitssituation Europas und mit den neuen Herausforderungen steht." Dieses Versprechen zielte darauf, Rußland Kooperationsbereitschaft zu signalisieren und die Pläne der NATO-Osterweiterung akzeptabler erscheinen zu lassen. Es akzeptierte, daß die bislang gültige NATO-Strategie, die noch von der Existenz der Sowjetunion ausgeht, einer Revision bedurfte. Der NATO-Gipfel in Madrid bestätigte das Vorhaben.

Im Dezember 1997 beschloß der NATO Rat die politischen Vorgaben für die Strategieüberarbeitung. Seit Anfang 1998 befaßte sich eine hochrangige, politische Beratungsgruppe mit der Aufgabe. Im Frühherbst des Jahres legte sie - wenige Tage vor dem NATO-Verteidigungsministertreffen im portugiesischen Villamura ihren ersten Entwurf vor. Nach anfänglichen Versuchen, diesen als weitgehenden Konsens zu präsentieren, wurde klar: Jetzt müßte die eigentliche Arbeit beginnen, von nun an werden die Konflikte und unterschiedlichen Sichtweisen im Bündnis deutlich und müssen ausdiskutiert werden. Anläßlich der Herbstsitzungen der NATO konnten die versammelten Minister zwar "Fortschritt" begrüßen, zugleich aber wurde deutlich, daß Richtungsentscheidungen zu treffen sein würden.

Wenig später wurde der Konflikt um den Kosovo von Militärs und Politikern der NATO und vor allem der USA zum Musterbeispiel für die künftigen Aufgaben und die künftige Strategie des Bündnisses erklärt. Er mache deutlich, daß es Aufgabe der Allianz sein müsse, bei Völkermord und groben Menschenrechtsverletzungen einzugreifen; dies müsse - wenn der UNO-Sicherheitsrat durch einzelne Vetomächte blockiert sei, notfalls auch ohne UN-Mandat geschehen. Die Eskalation des Konfliktes um das Kosovo begleitete und dominierte von nun an die weitere Entwicklung des neuen Strategischen Konzeptes und unterband weitergehende "öffentliche Diskussionen. Geschlossenheit war gefragt Zugleich überlagerte die Entwicklung des Konfliktes die Diskussion über Richtungsentscheidungen, die die NATO mit ihrem neuen Konzept treffen mußte.

 

Im Kern ging es um die folgenden Fragen:

  • Soll die NATO künftig weiterhin vorrangig das Territorium ihrer Mitgliedsstaaten sichern, unabhängig davon ob eine solche Bedrohung wahrscheinlich ist? Oder soll sie auch die Interessen der Mitgliedsstaaten durchsetzen?

  • Für welchen geographischen Raum soll sich die Allianz zuständig erklären? Für das Staatsgebiet der eigenen Mitglieder, für das Gebiet der Mitglieder und der Staaten der Partnerschaft für den Frieden? Soll es überhaupt eine geographische Begrenzung der militärischen Aktivitäten der NATO geben?

  • Versteht sich die Allianz vorrangig als politische Organisation, deren Aufgabe es ist, nach vollzogener Selbsttransformation den Aufbau eines Systems kooperativer und kollektiver Sicherheit in Europa voranzutreiben und die dafür erforderlichen stabilen Rahmenbedingungen abzusichern? Soll sie Sicherheit mit oder gegen Rußland gestalten? Wo endet Europa und wer soll letztlich Mitglied der NATO werden Können?

  • Soll die Allianz militärische Einsätze, die nicht der Selbstverteidigung dienen, grundsätzlich von einem Mandat der internationalen Staatengemeinschaft, also der UNO oder der OSZE, abhängig machen, oder soll sie sich das Recht vorbehalten, auch dann militärisch zu intervenieren, wenn ein solches Mandat nicht vorliegt?

  • Soll die Rolle nuklearer Waffen in der Allianzstrategie weiter reduziert werden oder soll diesen Waffen durch die Zuweisung neuer Aufgaben neue Legitimation zugewiesen werden? Wie hält das Bündnis es künftig mit nuklearer Abrüstung und - angesichts der Nuklearwaffentests Indiens und Pakistans - mit einem eigenen Beitrag zur Absicherung des Nichtverbreitungsvertrages für die Zukunft?

  • Wieviele und welche Vorgaben soll die neue Allianzstrategie den Mitgliedsstaaten im Blick auf deren künftige Verteidigungsausgaben, Streitkräftestrukturen und zukünftige technologische Fähigkeiten ihrer Streitkräfte machen?

  • Schließlich entstand in den letzten sechs Monaten vor dem Gipfel eine weitere Frage: Wie soll sich das Kräfteverhältnis innerhalb des Bündnisses weiterentwickeln? Sollen die europäischen NATO-Staaten längerfristig eine eigene, militärische Handlungsfähigkeit aufbauen und in welchem Maße soll diese von den USA beeinflußbar bzw. kontrollierbar sein?

  •  

Out of Area or Out of Business?

Vor Jahren bereits stellte der amerikanische Senator Richard Lugar mit diesen Worten die Leitfrage für die heutige Diskussion. Washington drängt seine europäischen Verbündeten, die NATO künftig als Bündnis zur Durchsetzung von Interessen zu verstehen. Die Allianz soll möglichst ohne geographische Begrenzung militärisch handlungsfähig werden. Die erst 1994 geschaffene Möglichkeit, von der UNO oder der OSZE autorisierte, friedensunterstützende, militärische Interventionen durchzuführen, soll von der Voraussetzung eines Mandates der internationalen Völkergemeinschaft entkoppelt werden. Ein Beschluß der NATO-Staaten sollte künftig ausreichen, um einen militärischen Einsatz außerhalb des Bündnisgebietes auszulösen. Auch diese Überlegung gab Washington seinen Bündnispartnern früh zu bedenken. Bereits 1993 formulierte ein brisantes Papier aus der US-Botschaft bei der NATO: "With the UN whenever possible, without it whenever necessary".

Die meisten europäischen Staaten sehen im Gegensatz zu den USA in der NATO allenfalls ein regionales Ordnungs- und Interventionsinstrument, nicht aber einen potentiell globalen Akteur. Zugleich - dies machte die Zustimmung der Europäer im Fall Kosovo deutlich - gab es keine klare und eindeutige Haltung der europäischen Staaten zu nicht-UN-mandatierten NATO-Einsätzen. Ein Mandat sollte in der Regel die Voraussetzung darstellen - von Fall zu Fall sollen aber auch Ausnahmen möglich sein. Dies riskiert, daß die Ausnahme die Regel wird und trägt zur Aushöhlung der Autorität der Vereinten Nationen bei.

Das neue Strategische Konzept der NATO erweitert das Aufgabenfeld, sowie den politischen und geographischen Handlungsspielraum der Allianz erheblich. Zwar bleibt die kollektive Verteidigung rhetorisch eine Kernaufgabe der NATO. Jedoch ist klar, daß es eher unwahrscheinlich ist, daß diese Aufgabe auch militärisch wahrgenommen werden muß und zu einem Militäreinsatz führt. Ganz anders bei den "neuen Aufgaben" der Allianz, Krisenmanagement, Stabilitätsprojektion und friedensunterstützende Maßnahmen. Diese Aufgaben führen realistischerweise zu militärischen Einsätzen und - das Beispiel Kosovo zeigt es - zu Krieg. Dafür ist künftig nicht länger zwingend ein Mandat der UNO erforderlich, auch wenn die Rolle der UNO und der OSZE im neuen Konzept auf europäischen Wunsch hin hervorgehoben wurde. "Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt die primäre Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und leistet in dieser Eigenschaft einen entscheidenden Beitrag zu Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum", sagt das neue strategische Konzept. Die "primäre" Verantwortung läßt aber eine letzte Verantwortung der NATO zu; "ein entscheidender Beitrag" ist nicht "der" entscheidende Beitrag. Die NATO hat sich die Option gesichert, von Fall zu Fall Vorrang vor den Vereinten Nationen zu reklamieren, auch wenn sie im Regelfall bereit sein sollte, Krisenmanagement "unter der Autorität des UN-Sicherheitsrates oder der Verantwortung der OSZE" zu praktizieren. Die NATO reklamiert das Recht, auch außerhalb des NATO-Gebietes zu intervenieren, z.B. um einen drohenden Völkermord zu verhindern. Nicht grundsätzlich, als Weltpolizist, sondern so die neue NATO-Strategie - vorrangig im "euro-atlantischen Raum". Dieser ist nicht definiert. Normalerweise wird mit diesem Begriff auf die 44 Staaten der Partnerschaft für den Frieden bezogen, umfaßt also auch den Transkaukasus und Zentralasien. Während ein militärisches Eingreifen der NATO zumindest in Zentralasien als eher unwahrscheinlich gelten darf, dürften obwohl nicht euroatlantischer Raum im klassischen Sinne - Nordafrika und einige andere Mittelmeeranrainerstaaten schon eher zu jenen geographischen Gebieten zählen, in denen eine Involvierung der NATO künftig als wahrscheinlich gelten darf. ähnlich der Frage, ob ein Mandat der Vereinten Nationen vorliegen sollte, so dürfte auch die Frage ob das Eingreifen in einem bestimmten geographischen Raum realisiert wird, künftig von Fall zu Fall und damit unter dem Druck der Ereignisse und entlang der nationalen Interessen der NATO-Mitglieder entschieden werden.

Dies wird auch deutlich, wenn das neue Strategische Konzept der NATO über die sicherheitspolitischen Risiken der Zukunft spricht: Bedrohungen, z.B. durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Staaten im Mittleren Osten, in Nordafrika oder gar im Besitz nichtstaatlicher Akteure lassen eine fixe Begrenzung des Aktionsradius nicht zu. Dies gilt erst recht für den Bereich der Informationskriegsführung, des Information Warfare. Geographische Grenzen verlieren in diesen Kontexten an Bedeutung. Die Welt wird zum globalen Dorf. Daß solche Überlegungen nicht abstrus sind, zeigen die jüngsten Entwicklungen vor allem der nationalen US-amerikanischen Militärstrategie. Globales Agieren im Bereich der Informationskriegführung ist hier ebenso zu einem selbstverständlichen Bestandteil geworden wie die Tatsache, daß militärische Schläge gegen nicht-staatliche Akteure - Terroristen, radikale, religiöse Gemeinschaften oder transnationale Konzerne - Element nationalen militärischen Handelns der USA geworden sind. Sogar der Einsatz von Nuklearwaffen, z.B. gegen Terroristen, die man im Besitz biologischer oder chemischer Waffen wähnt, wird dabei nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Ein Mandat der internationalen Staatengemeinschaft - so das Argument - sei hier kaum denkbar und liege außerhalb jener völkerrechtlichen Überlegungen, die beim Aufbau des heutigen Systems internationalen Rechtes zugrundegelegt worden seien.

 

Künftige Militärische Fähigkeiten

"Mind the Gap" so überschrieben Autoren der amerikanischen National Defense University eine einflußreiche Studie, in der sie für eine erhebliche Modernisierung vor allem der konventionellen Streitkräfte der großen europäischen NATO-Staaten plädierten. Diese soll vor allem die Fähigkeit zu militärischen Interventionen jenseits der Grenzen des NATO-Gebietes stärken. Die Studie konnte als Leitfaden für die Entwicklung amerikanischer Forderungen verstanden werden, die neue NATO-Strategie solle Aussagen über die künftigen militärisch-technologischen Fähigkeiten der Allianz machen. Mit der sogenannten "Defense Capabilities Initiative" hat der Washingtoner Gipfel auf dieses Ansinnen reagiert.

Der Kern des militärischen Potentials des Bündnisses soll zu einem schlagkräftigen, flexiblen, über große Entfernungen verlegbaren und großräumig einsetzbaren Interventionsinstrument umgestaltet werden. Die militärischen Kräfte sollen so bemessen sein, daß ein Regionalkrieg, Beispiel Golfkrieg 1991, sowie gleichzeitig eine friedensunterstützende Maßnahme parallel und über eine längere Dauer durchgeführt werden Können. Ein militärischer Grundschutz des NATO-Territoriums soll gleichzeitig gesichert bleiben. Trotzdem seien deutliche Reduzierungen der Streitkräftestärken möglich - die Größe des Bundeswehrheeres veranschlagen die Autoren der Studie auf künftig drei hochmoderne Divisionen. Aus Sicht der USA stehen die europäischen NATO-Staaten deshalb vor der Aufgabe, die technologische Modernisierung ihrer Streitkräfte nachzuholen und in erheblichem Umfang zu investieren. Dies gilt vor allem für die Bereiche Kommunikation, Kontrolle, Aufklärung, Überwachung, weitreichende präzise Abstandswaffen und Langstreckentransportwesen. Das Stichwort in den USA heißt "Revolution in Military Affairs" und zielt auf ein vollcomputerisiertes, integriertes System von der Lage- und Zielaufklärung bis hin zu punktgenauer zeitverzugsloser Zielbekämpfung mit anschließender Überprüfung, ob der Angriff erfolgreich war.

Die begrenztere europäische Vision von den künftigen Aufgaben der NATO drückte sich natürlich auch in geringeren Forderungen an die Leistungsfähigkeit der NATO-Streitkräfte aus. Die europäischen Staaten wollen zwar den Zug der technologischen Revolution im Militärischen nicht verpassen - zugleich aber gibt es Widerstände gegen den dann notwendigen Übergang zu Berufsstreitkräften sowie gegen die amerikanischen Bemühungen, über die Ausstattung der Streitkräfte deren Funktion zu bestimmen. Hinzukommt, daß von manchen in Europa die US-Forderungen auch als Marketinginitiative für Rüstungsstechnologie der USA verstanden werden.

Die Beschlüsse des Washingtoner NATO-Gipfels bestätigen zwar im Grundsatz die politisch-militärischen Vorstellungen der USA, gießen diese aber nicht in bindende Investitionsverpflichtungen für die europäischen NATO-Partner. Ungeklärt bleibt vor allem, ob die Modernisierung der europäischen Streitkräfte vor allem im Kontext der NATO oder im Kontext der Europäischen Union realisiert werden wird. In Deutschland wird sich diese Problematik in den kommenden Monaten in wachsendem Maße in der Diskussion über die Zukunft der Bundeswehr, deren Umfang, Ausstattung, Haushalt und Aufgaben spiegeln. Kernfragen sind dabei: In welchem Umfang wird die Bundeswehr verkleinert, damit sie modernisiert werden kann? Wie interventionsfähig wird die Bundeswehr ausgestaltet und an welche politischen Voraussetzungen werden Bundeswehreinsätze künftig gebunden? Und: Wie wird die Bundeswehr der Zukunft im Spannungsfeld zwischen transatlantischer Allianz und entstehenden europäischen Strukturen des militärischen Krisenmanagements verortet?

 

Die Rolle Atomarer Waffen

Umstritten ist vor allem auch die künftige Rolle nuklearer Waffen im Bündnis. Gereizt bis scharf reagierte die Clinton-Administration schon im Herbst 1998, als Bundesaußenminister Joschka Fischer die begrenzte Frage aufwarf, ob die NATO künftig auf die Möglichkeit zu einen Ersteinsatz nuklearer Waffen verzichten solle. US-Verteidigungsminister Cohen machte klar, daß Washington in dieser Option einen unverzichtbares Mittel der Abschreckung gegen alle Besitzer von Massenvernichtungswaffen sehe. Cohen's Position machte deutlich: Erstens: Die USA erwarten von der NATO, daß sie die nukleare Abschreckung und gegebenenfalls auch Bekämpfung der Besitzer atomarer, biologischer und chemischer Waffen als Aufgabe der NATO sieht - auch wenn dies in der bisherigen NATO-Strategie nicht explizit vorgesehen ist. Zweitens: Žähnlich wie im Bereich der konventionellen Streitkräfte soll eine Ausweitung der des Aufgabenspektrums der NATO auf potentielle Gegner aus dem Süden erfolgen.

Die meisten nicht-nuklearen europäischen Staaten schauen dagegen besorgt auf die Perspektiven nuklearer Abrüstung und nuklearer Nichtverbreitung. Im April steht eine weitere Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag an. Sie glauben, daß die Rolle nuklearer Waffen in der NATO weiter reduziert werden kann. Diese Waffen werden zwar noch als letztes Mittel der Abschreckung erachtet - vielleicht gar in jenem Sinne und Kontext, den der Internationale Gerichtshof allein nicht als illegal bezeichnen wollte: Den Fall einer existentiellen Bedrohung eines Staates. Diese veränderte Haltung der europäischen NATO Staaten spiegelte sich in ihrem Abstimmungsverhalten zur Resolution der New Agenda Coalition in den Vereinten Nationen. Für sie kommt ist eine Funktion nuklearer Waffen im Rahmen offensiver Counterproliferation nicht infrage - noch weniger amerikanische Überlegungen den Nuklearwaffeneinsatz auch gegenüber nicht-staatlichen Akteuren offenzuhalten.

Das neue Strategische Konzept der NATO hält unverändert an der bisherigen umstrittenen Nuklearstrategie fest. Die Veränderungen sind minimal - der Streit wurde scheinbar vertagt. Eine mehrjährige Überprüfung der nuklearen Rüstungskontrolle- und Nichtverbreitungspolitik der Allianz soll sich an den Gipfel anschließen. Manche NATO-Staaten, so vor allem die Nuklearmächte, betonen, dabei gehe es vorrangig um die rüstungskontrollpolitischen Aspekte; andere - so die Bundesrepublik und Kanada sehen die gesamte Nuklearpolitik auf dem Prüfstand.

Die Befürworter einer reduzierten Rolle nuklearer Waffen könnten irren, wenn sie glauben somit einen Teilerfolg erzielt zu haben. Die Tatsache, daß ein Ersteinsatz nukleare Waffen in der Strategie der Allianz nicht ausgeschlossen wird, hält die Option zu einem solchen Einsatz aus Sicht der USA offen. Die Tatsache, daß ein Einsatz von Nuklearwaffen zur Abschreckung und Bekämpfung der Besitzer chemischer und biologischer Waffen nicht explizit ausgeschlossen wird, hält auch diese Option aus Sicht der USA offen und erfordert per definitionem die Möglichkeit zu einem Ersteinsatz. Dies wiederum hat zwei Folgen: Zum einen werden die Handlungsmöglichkeiten im Kontext der Überprüfung der nuklearen Rüstungskontrolle- und Abrüstungspolitik der Allianz auf diesem Wege signifikant verkürzt. Zum zweiten stellen die NATO-Staaten damit die Negativen Sicherheitsgarantien für nichtnukleare Staaten im Kontext des Nichtverbreitungsvertrages in Frage. Zudem provoziert die Allianz, die die nukleare Teilhabe weiterhin praktiziert, die Frage, ob sie ihre Verpflichtungen aus Art. I und II des Nichtverbreitungsvertrages bei einem kollektiven Einsatz dieser Art brechen würde.

 

Wo endet Europa?

Auf zwei entscheidende Fragen gab der NATO-Gipfel 1999 keine Antwort. Dies waren erstens die Frage nach der Zukunft der Osterweiterungen des Bündnisses und zweitens die Frage nach dem künftigen Verhältnis der NATO zu Rußland.

Die Befürworter der NATO-Osterweiterung Können und wollen nicht sagen, welche Staaten dem Bündnis in Zukunft endgültig angehören sollen. Sie sind tief gespalten. Manche sind der festen Überzeugung, daß die Allianz um ihrer Handlungsfähigkeit und Kohärenz willen - nicht mehr substantiell erweitert werden darf. Andere wollen das Bündnis schrittweise weiter vergrößern, unabhängig von negativen Reaktionen Rußlands.

Das Ergebnis könnte hochbrisant sein: Die seitens der USA gewünschte, geographisch weiträumig militärisch aktive NATO wird parallel zu einer NATO entwickelt, die Rußland zwar nicht aktiv ausgrenzt, Sicherheit aber doch eher gegen Rußland als mit Rußland gestaltet und Moskau zur Wahl einer neuen Politik der Selbstisolation und eingeschränkten Konfrontation veranlassen könnte, da es seine vitalen Sicherheitsinteressen nicht hinlänglich gewahrt oder sogar übergangen sieht. Das hatten die Autoren der NATO-Rußland-Gründungsakte wohl kaum im Sinn, als sie die Überarbeitung des Strategischen Konzeptes der NATO ins Auge faßten.

Der Kosovo-Krieg hat erste Fakten geschaffen: Mit territorialen Sicherheitsgarantien für die Nachbarn des ehemaligen Jugoslawiens für die Zeit des Krieges war die NATO vorgeprescht, um sich deren Unterstützung zu sichern. Sie wird von diesen Zusagen kaum zurücktreten Können und hat damit den künftigen NATO-Beitritt dieser Staaten präjudiziert. Eine Erweiterung der NATO (und der EU) um letztlich alle Staaten des Balkans liegt zudem in der Logik des Stabilitätspaktes, der neben der Stationierung von Truppen im Kosovo den Rahmen für eine westliche Stabilitätsprojektion nach Südosteuropa abgeben soll. Impliziert wäre eine deutlich veränderte Aufgabenstellung für die NATO, die Absicherung friedlichen Verhaltens unter ihren künftigen neuen Mitgliedern auf dem Balkan. Diese Aufgabenstellung wurde in der neuen NATO-Strategie in keiner Weise reflektiert.

Schließlich das Verhältnis zu Rußland: Die neue NATO-Strategie schreibt das NATO-Rußland-Verhältnis aus der Zeit vor dem Kosovo-Krieg fort. Dies ist realitätsfremd. In Konsequenz der Erfahrungen aus dem Kosovo-Krieg wird Rußland zwar nicht jede Kooperation mit den NATO-Staaten einstellen. Es wird aber auf eine Politik der begrenzten, vorsichtigeren Kooperation und größeren Autarkie setzen, eine Politik der in sich selbst begründeten und von der Kooperation mit der NATO unabhängigeren Stärke. Mit dem Krieg in Tschetschenien führt Rußland dem Westen nicht nur spiegelbildlich viel Argumente der Legitimation vor Augen, die der Westen selbst zunächst im Kosovo-Kontext nutzte. Moskau signalisiert auch: Der Zerfall der Russischen Föderation ist beendet. Der neue, starke Mann, Interimspräsident Putin, wird, sollte er zum Präsidenten gewählt werden, Rußland konsequent und mit straffer Hand zu "alter" Stärke zurückführen, alle Ressourcen mobilisieren, um die Rolle Rußlands in der Welt wieder zu stärken. Dies gilt auch für die Außenpolitik, in der die Phase der Passivität beendet wird. Diese Veränderungen, kombiniert mit einer sehr realistischen Sicht der vorrangig inneren Sicherheitsprobleme und Risiken für Rußland, findet sich bereits in der Konzeption der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation, die Putin kurz nach seinem Amtsantritt im vergangenen Monat billigte. Die Frage für den Westen lautet weiterhin, ob Sicherheit in Europa mit oder gegen Rußland geschaffen werden soll.

 

Wieviel Europa erlauben die Transatlantischen Beziehungen?

Seit Jahren einig sind sich Europäer und Amerikaner, daß Europa eine größere und zugleich eigenständigere Rolle militärischer und sicherheitspolitischer Art spielen soll. In der NATO hat sich dafür der Begriff der "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" (ESVI) herausgebildet. Deklariertes Ziel ist es, die europäischen NATO Staaten zu befähigen, auch ohne die USA friedensunterstützende, militärische Maßnahmen durchzuführen; dies schließt friedenserzwingende Maßnahmen mit ein. Dies soll greifen, wenn die USA sich nicht militärisch engagieren wollen. Seit Jahren werden zwischen der WEU und der NATO jene Bedingungen und Formen der Zusammenarbeit diskutiert, die es der WEU erlauben würden, bei der NATO technische und personelle Kapazitäten sowie Aufklärungsdaten auszuleihen, die die WEU nicht besitzt. Combined Joint Task Forces, deren Hauptquartiere auf Kernzellen der NATO-Hauptquartiere aufbauen sollen, sowie gemeinsame beschaffte Infrastruktur der NATO, z.B., AWACS Flugzeuge, sollen in solchen Fällen zum Einsatz kommen und den europäischen NATO-Mitgliedern ermöglichen, was sie alleine nicht Können. WEU-Einsätze sollen zuvor im NATO-Rat gebilligt werden, bleiben also letztlich durch die NATO kontrollierbar.

Dieses Arrangement - und die bereits erwähnte Kritik der europäischen NATO-Staaten am Unilateralismus der USA - rief Besorgnisse auf dem europäischen Kontinent hervor: Sollte die NATO die Dauer eine WEU-Einsatzes beeinflussen, ja bestimmen Können? Sollte sie bei solchen Einsätzen ein Mitentscheidungsrecht haben? Ja, sogar gegebenenfalls entscheidenden Einfluß auf Erfolg oder Mißerfolg? Viele WEU-Staaten erinnerten sich, daß die USA darauf bestanden haben, daß der WEU unterstellbare, europäische militärische Formationen wie das Eurokorps rechtlich verbindlich an die NATO gekoppelt wurden und somit keine volle Eigenständigkeit der WEU entstehen konnte. Mit Sorge sahen sie nun, daß die USA versuchten, eine rechtlich verbindliche Pflicht der NATO, die WEU zu unterstützen, zu vermeiden suchten. Von vielen wird die US-Politik so verstanden, daß Washington die Kontrolle über das militärische Handeln der Europ"er auch dann erlangen will, wenn es selber sich an der betreffenden Militäroperation nicht beteiligt.

Gerade wegen der europäischen Kritik am wachsendnen amerikanischen Unilateralismus und an Washington's Druck, europäische Streitkräfte nach amerikanischem Muster und mit amerikanischer Technologie zu modernisieren, wuchs der Ruf nach Alternativen. Der Kosovo-Krieg und seine unterschiedliche Be- und Auswertung, dies- und jenseits des Atlantiks, verstärkte diese Entwicklung. Die neuen außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten der EU, die aus den im Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag abgeleitet werden Können, wurden als Ansatzpunkte genommen.

Europa soll über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, hinaus eine europäische Verteidigungspolitik und eine europäische Verteidigung entwickeln. Die WEU soll mittel oder längerfristig, das ist noch nicht entschieden - in die EU integriert werden - was eine Aufgabe der rechtlichen Bindungen der WEU an die NATO, z.B. das Verbot des Aufbaus militärischer Parallelstrukturen, zur Folge haben könnte. Mit Vehemenz begann die deutsche EU-Präsidentschaft, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Außenminister Fischer schlug vor, ein und dieselbe Person solle die GASP und die WEU leiten; Bundeskanzler Schröder forderte eigenständige militärische Entscheidungsstrukturen der EU. Teure militärische Infrastruktur, wie sie die USA neu bei der NATO ansiedeln wollen, werden nunmehr alternierend für die EU vorgeschlagen. Die geplante Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik und die notwendige Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie könnten hier einen erheblichen Anreiz durch indirekte Subventionierung erhalten.

Der neuen NATO-Strategie und dem Kommuniqué des Washingtoner Gipfels liegen je eines dieser beiden unterschiedlichen Konzepte für die Stärkung des europäischen Beitrags zur militärischen Sicherheit und Stabilität zugrunde. Die Strategie reflektierte die Entwicklung der letzten Jahre - europäisches Handeln im Rahmen der WEU unter Billigung und Mithilfe der NATO. Das Kommuniqué reflektierte dagegen die Entwicklung der letzten Monate: Europa handelt militärisch als Europäische Union mit oder ohne die Billigung und Mithilfe der NATO; die WEU wird eng an die EU angebunden und ihre militärischen Fähigkeiten werden in diese überführt. Schon bis zum Jahr 2000, so die Vorstellung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, sollte die EU eine erste eigene militärische Handlungsfähigkeit gewinnen. Die bislang zivile Europäische Union wagte den Einstieg in gemeinsame militärische Aufgaben. Diese sind zunächst auf das Krisenmanagement, die sogenannten Petersberg-Aufgaben, beschränkt bleiben. Damit aber wird für die Europäische Union jener Teil der in der neuen NATO-Strategie definierten Aufgaben reklamiert, der am wahrscheinlichsten zu einem Einsatz militärischer Kräfte führen wird: das Gesamtspektrum militärischer Einsätze zum Krisenmanagement. Die deutlich unwahrscheinlichere Aufgabe der kollektiven Verteidigung verbleibt allein bei der NATO.

 

Bereits beim EU-Gipfel in Köln Anfang Juni 1999 wurden erste Pflöcke eingeschlagen. 

Der ersten Ankündigung ließ die Europäische Union ungewöhnlich schnell Taten folgen. Während des EU-Gipfels in Köln am 3./4. Juni hielten die Teilnehmer fest: " Wir sind davon überzeugt, daß der Rat bei der Verfolgung der Ziele unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die Möglichkeit haben sollte, Beschlüsse über die gesamte Palette der im Vertrag über die Europäische Union definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten Petersberg-Aufgaben, zu fassen. Im Hinblick darauf muß die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf ein glaubwürdiges Militärpotential, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen, um - unbeschadet von Maßnahmen der NATO - auf internationale Krisen zu reagieren." Schon anläßlich des nächsten EU-Gipfels im Dezember 1999 in Helsinki wurde dieses grundsätzliche Ziel durch Schritte zur praktischen Umsetzung untermauert. Beschlossen wurde, daß die EU sich binnen eines Jahres eine analog zur NATO aufgebaute, politisch-militärische Entscheidungsstruktur geben werde, die u.a. einen Sicherheitspolitischen Rat, einen Militärausschuß, einen militärischen Stab und ein Lagezentrum umfaßt. Diese soll politisch autonome Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen. Zudem wurde festgelegt, daß die EU bis 2003 sich die militärischen Fähigkeit schafft, bis zu 60.000 Soldaten binnen zwei Monaten und für mindestens ein Jahr bei einer Krise in Europa und in dessen Nachbarschaft einzusetzen. Ein gemeinsames Lufttransportkommando soll aufgebaut werden, militärische Instrumentarien der WEU sollen für den Zugriff der EU zur Verfügung stehen bzw. zu dieser überführt werden. Bis zum Ende der französischen EU-Präsidentschaft im Dezember dieses Jahres, soll festgelegt werden, wer für dieses Vorhaben welche Streitkräfte bereitstellen kann, wie die Kommunikationsstrukturen mit der NATO gestaltet werden, wie Staaten, die nicht in der EU sind, sich aber an Krisenmanagement-Einsätzen der EU beteiligen wollen, in diese eingebunden werden Können und welche Zukunft die WEU, einschließlich deren Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung haben soll.

In Washington wuchs deshalb sehr schnell die Besorgnis vor einem zu großen Unabhängigkeitsstreben Europas. Das Primat der NATO könnte in Gefahr geraten. Mit teils scharfen Worten wurden die EU-Staaten aufgefordert, den Vorrang der NATO nicht zu gefährden, der NATO Garantien zu geben, daß diese auf die entstehenden militärischen Fähigkeiten im EU-Kontext zurückgreifen könne. Der Streit ist weder ausgestanden, noch wird diese Entwicklung in der neuen NATO-Strategie reflektiert.

 

Schlußbemerkungen:

Eines kann deshalb als sicher gelten: Die neue NATO wird nicht die alte sein. Ob die neue NATO dagegen eine bessere sein wird als die alte - das kann angezweifelt werden. Das neue strategische Konzept der NATO erwies sich schon bei der Generalprobe im Kosovo als tückisch. Das Orchester spielt nicht aus derselben Partitur. Der deutlichste Beleg: Als die Allianz ihre Bombardierungen begann, hatte sie weder klar definierte Kriegsziele noch eine realistische Einschätzung des Gegners und somit kein klares Konzept, unter welchen Bedingungen man die Kampfhandlungen wieder einstellen werde. All dies veränderte sich während des Krieges, ebenso wie die "öffentlichen Argumente, warum er geführt werde.

Ganz offensichtlich stimmte beim Vorgehen der NATO etwas nicht: Politische Ziele und der politische Wille zum Einsatz militärischer Mittel standen nicht im Einklang. Die NATO hatte politische Forderungen aufgestellt und eine militärische Drohung ausgesprochen, mit der sie ihre Forderungen nicht gesichert erzwingen konnte. Beide Seiten folgten deshalb einer Eskalationslogik, die zunächst alle politisch-diplomatischen Lösungen vereitelten. In letzter Minute vor einer schmerzlichen Entscheidung über einen Bodenkrieg wurde sie doch noch unter Mithilfe Rußlands, der Vereinten Nationen und der G8 gefunden wesentlicher Akteur war die EU, nicht der NATO.

Die Beschlüsse des Washingtoner NATO-Gipfels, insbesondere das neue Strategische Konzept der NATO sind vergangenheitsorientiert. Sie vollziehen die Allianzdiskussion der Jahre 1991 bis 1998 nach. Sie betonen die militärische Rolle der NATO, ihre Funktion als militärisches Interventionsinstrument. Die entscheidende Schwäche: Als Militärbündnis verfügt die NATO nicht über ein Kontinuum politisch-diplomatischer, wirtschaftlicher und militärischer Mittel für die künftig wichtige Aufgabe des Krisenmanagements. Sie hat nur die Wahl, nichts zu tun oder einen Konflikt schnell militärisch zu eskalieren. Erst wenn überlegenes Militärpotential gefragt ist, kommen die Stärken der NATO zum Tragen. Die zwingende Ergänzung dazu eine koordinierte Politik des zivilen, politischen und nur notfalls militärisch abgestützten Krisenmanagements über das gesamte potentielle Eskalationsspektrum eines Konfliktes zu entwickeln, hat die NATO unter Führung der Vereinigten Staaten versäumt. Deshalb und weil die Allianz in Washington nur auf die militärischen Richtungsentscheidungen eine Antwort fand, stellen die Gipfelbeschlüsse keine Vision für das 21. Jahrhundert dar. An genau diese umfassende Aufgabe hat sich   unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges - die Europäische Union herangewagt. Mit welchem Erfolg, das bleibt abzuwarten. Dies nicht zuletzt, weil die Europäische Union sich ebenfalls vor viele jener Richtungsentscheidungen gestellt sehen wird wie die NATO.

 

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).