30. Juni 2008


Sarkozy, die NATO und die EU
Gedanken zur französischen Ratspräsidentschaft

von Otfried Nassauer

Knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt übernimmt der französische Präsident, Nicolas Sarkozy, am 1. Juli auch die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Das bietet ihm die Möglichkeit, verstärkt sicherheitspolitische Akzente zu setzen.

Strategische Aufgaben bedürfen strategischer Vorbereitung. Daran mag er gedacht haben, als er begann, seine erste EU-Präsidentschaft vorzubereiten. Am 1. Januar 2009 – so damals die Planung – sollte der Lissaboner Vertrag in Kraft treten. Dieser erlaubt den Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Europäischen Verteidigungspolitik. Er erweitert die rechtliche Basis für eine intensivere Zusammenarbeit der EU-Staaten deutlich. Die Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU liegt traditionell im französischen Interesse. Sarkozy bot das die Chance, der Weiterentwicklung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik seinen Stempel aufzudrücken. Er kann vorplanen, wie die EU, der Europäische Rat und die anderen Institutionen all die neuen Rechte nutzen sollen, die der Lissaboner Vertrag ihnen künftig zugesteht.

Frankreich begann deshalb schon vor Monaten, mit Großbritannien zu sondieren, wie ein zweites St. Malo aussehen könnte. In St. Malo hatten sich Paris und London 1998 auf Eckpunkte für die Umsetzung der ESVP verständigt, deren Aufbau wenige Monate später am 1. Januar 1999 – mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages – beginnen konnte. Heute gilt es, die Eckpunkte für den Weg zu einer Europäischen Verteidigungspolitik festzulegen, der beschritten werden kann, sobald der Lissaboner Vertrag wirksam wird. Sowohl das meist proeuropäische Paris als auch das traditionell europa-skeptische London müssen diese Eckpunkte mittragen, wenn sie belastbar sein sollen. Es gilt herauszufinden, wie das neue Instrument der strukturierten Zusammenarbeit – also die regelmäßige Kooperation der Staaten der EU, die zu einer Vertiefung der europäischen Sicherheits- und

Verteidigungszusammenarbeit bereit sind – wirksam genutzt werden kann. Ziel muss es sein, der EU endlich glaubwürdige Fähigkeiten für zivile und militärische Operationen des Krisenmanagements zu verschaffen. Dazu gehört auch eine eigenständige europäische Planungs- und Kommandostruktur, die den Rückgriff auf operative Hauptquartiere der Mitgliedstaaten überflüssig macht. Eine politische Führung aus einer Hand für Operationen des Krisenmanagements muss geschaffen werden. Dafür muss auch die Arbeit des künftigen europäischen Außenministers vorgedacht werden, den der Lissaboner Vertrag einführt.

Für die Arbeit an all diesen Fragen könnte ein zweites St Malo den Startschuss darstellen.

Soll die französische EU-Präsidentschaft also dazu dienen, die EU sicherheitspolitisch autonomer und unabhängig von der NATO zu machen? Diese Befürchtung hegt traditionell Washington, das seinen Einfluss in Europa über die NATO wahrt.

Sarkozy versuchte bereits früh, solche Bedenken einzuhegen. Kurz nach seinem Amtsantritt verkündete er die Absicht, Frankreich in die militärische Integration der NATO zurückzuführen. Die hatte Paris 1966 verlassen, weil sich Präsident de Gaulle mit den USA über die NATO-Nuklearstrategie zerstritten hatte. Während des NATO-Gipfels in Bukarest kündigte Sarkozy sogar an, Paris könne bereits zum 60.Geburtstag der Allianz, der im April 2009 in Straßburg und Kehl gefeiert werden soll, Nägel mit Köpfen machen. Eine Initiative, die in der französischen Innenpolitik auf viel Skepsis traf, teils sogar auf offene Ablehnung.

Denn die Rückkehr in die militärische Integration würde bedeuten, dass Frankreich wieder in der Nuklearen Planungsgruppe und bei der gemeinsamen Verteidigungsplanung mitarbeitet. Im Nuklearbereich könnte dies den anderen NATO-Mitgliedern die Möglichkeit geben, von Frankreich nach mehr als 40 Jahren erstmals wieder detaillierte Rechenschaft über die französische Nuklearpolitik einzufordern. Nicht jeder in Frankreich findet das eine gute Idee. Auf noch tiefere Skepsis – vor allem im französischen Rüstungsestablishment – aber trifft der Wiedereinstieg in die gemeinsame Rüstungsplanung. In diese eingebunden, kann Frankreich verpflichtet werden, spezifische Beiträge zu übernehmen. Es müsste zudem darlegen, ob es diesen Verpflichtungen auch nachgekommen ist. In beiden Fällen handelt es sich aus Sicht der französischen NATO-Skeptiker um tiefe Eingriffe in die Souveränität und in nationale Zuständigkeiten, die Frankreich viel Flexibilität bei der Verfolgung seiner Interessen kosten könnten.

Sarkozy versuchte, die Wogen zu glätten. Im kürzlich veröffentlichten Weißbuch zur französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verspricht er, die wichtigsten Grundprinzipien de Gaulle’scher Politik beizubehalten: Frankreich werde die vollständige Unabhängigkeit seiner Nuklearkräfte wahren. Es werde keinerlei automatische militärische Verpflichtungen im Bündnis eingehen und seine Lageanalysen weiterhin auf nationale Aufklärungsfähigkeiten stützen. Es sei nicht vorgesehen, dem Bündnis dauerhaft französische Truppen zu unterstellen.

Dem Argument, Sarkozy’s Politik könne dazu führen, dass die EU zum Hilfsinstrument der NATO degradiert werde, hält das neue Weißbuch entgegen, beide Institutionen könnten sich ergänzen und platziert die ESVP immer wieder vor der NATO. Die atlantische Allianz erfülle die Aufgabe kollektiver Verteidigung gegen größere Angriffe und müsse eine Antwort auf die neue Bedrohungen finden, erklärt das Weißbuch. Die EU dagegen verfüge als einzige Institution über die Möglichkeit, das ganze Spektrum ziviler und militärischer Instrumente des Krisenmanagements zu mobilisieren. Das unterscheide sie von der NATO, die vorrangig über ein militärisches Instrumentarium verfüge.

Neu ist diese Doppelstrategie nicht. Schon Jacques Chirac, versuchte sich Mitte der 90er Jahre an der Reintegration Frankreichs in die militärischen Strukturen der NATO. Als aber deutlich wurde, dass Frankreich dafür keine wesentlichen Gegenleistungen und nicht erheblich mehr Einfluss bekommen werde, brach er seine Initiative ab. Frankreich nahm danach zwar wieder an Sitzungen der NATO-Verteidigungsminister teil, verweigerte aber die Mitarbeit in den Gremien, die der Allianz Einfluss auf die französische Nuklear- und Rüstungsplanung gegeben hätten. Chirac schwenkte damals um und setzte fortan auf die rasche Entwicklung und den Ausbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Könnte es sein, dass Sarkozy sich Ähnliches offenhält? Frankreich offeriert die volle Rückkehr in die NATO. Wenn aber der politische Preis nicht stimmt und Frankreich im Bündnis nicht genug zusätzlichen Einfluss bekommt, wird eben erneut umgeschwenkt und französische Initiativen zum Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation in Europa erhalten Vorrang, weil dies Paris mehr Einfluss garantiert? Schon möglich. Der Beifall der NATO-Skeptiker in Paris wäre Sarkozy sicher.

Jüngst aber haben sich die Rahmenbedingungen für Sarkozy’s erste EU-Präsidentschaft deutlich geändert. Nach dem irischen Nein zum Lissaboner EU-Vertrag ist nicht mehr sicher, ob der neue EU-Vertrag im Januar 2009 in Kraft treten kann. Damit ist plötzlich unklar, ob die französische EU-Präsidentschaft die Umsetzung der erweiterten rechtlichen Basis für die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit konzeptionell wirklich vorplanen kann. Vorrang hat nun die Suche nach einem Ausweg nach dem Irischen Nein und den zu erwartenden politischen Blockaden in weiteren Staaten. Bis ein solcher Ausweg gefunden ist, sind die Chancen der französischen EU-Präsidentschaft begrenzt, schon jetzt die Eckpunkte für die künftige Verteidigungspolitik unwiderruflich festzulegen und für die nachfolgende EU-Präsidentschaft vorzugeben.

Das neue Weißbuch hält Sarozy in Sachen NATO alle Wege offen. Ein konkreter Termin für die Rückkehr Frankreichs in die NATO wird nicht genannt. Der NATO-Gipfel in Strassburg soll nunmehr eine große Debatte über die Reform des Bündnisses einläuten. In dieser soll die strategische Partnerschaft Europas mit den USA neu bestimmt werden. Gemeinsam soll festgelegt werden, welche Bedrohungen Aufgabe der NATO seien. Die transatlantische Aufgabenteilung soll verbessert werden. Eine Reform der Planungs- und Kommandostrukturen der NATO soll angestoßen werden. Eine feste, dauerhafte Aufgabenteilung zwischen NATO und EU sei dabei der falsche Ansatz, hält das Weißbuch fest. Denn man könne die EU könne nicht auf die Rolle einer NATO-Agentur für ziviles Krisenmanagement reduzieren. Das klang schon fast wieder wie bei Chirac.

Und doch nicht ganz. Denn Sarkozy müsste von seinen Ankündigungen in Sachen NATO praktisch vollständig Abstand nehmen. Ein gesichtswahrender Rückzugsschritt – wie Chiracs Entscheidung, wieder an den Sitzungen der NATO-Verteidigungsminister teilzunehmen, stünde ihm nicht zur Verfügung. Es bliebe ihm also nur der volle Rückzug oder die Flucht nach vorn: Er macht seine Ankündigung hinsichtlich der NATO wahr, fordert aber, dass die NATO dafür den Aufbau einer substantiellen zivil-militärischen Führungsfähigkeit der EU parallel zu den Kommandostrukturen der NATO akzeptiert. Diese könnte nach den gleichen Prinzipien wie NATO-Fähigkeiten durch die EU genutzt werden können, also "Berlin plus" Regeln unter umgekehrtem Vorzeichen, auch für Operationen der NATO genutzt werden. Würde das durch die NATO akzeptiert, könnte Sarkozy es in der EU als seinen Erfolg reklamieren, der Frankreich Anspruch mit Recht auf zentrale künftige EU-Posten wie den des ersten EU-Außenministers erheben ließe. Gelänge auch das, so hätte Sarkozy erreicht, was er schon jetzt anstrebt und wahrscheinlich nicht erreichen kann: Zentralen französischen Einfluss auf die Ausgestaltung der ESVP und der EVP nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages. Vorausgesetzt, der Vertrag scheitert nicht doch noch ganz.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS