Sarkozy, die NATO und die EU
Gedanken zur französischen Ratspräsidentschaft
von Otfried Nassauer
Knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt übernimmt der französische
Präsident, Nicolas Sarkozy, am 1. Juli auch die Ratspräsidentschaft der
Europäischen Union. Das bietet ihm die Möglichkeit, verstärkt
sicherheitspolitische Akzente zu setzen.
Strategische Aufgaben bedürfen strategischer Vorbereitung. Daran mag
er gedacht haben, als er begann, seine erste EU-Präsidentschaft
vorzubereiten. Am 1. Januar 2009 – so damals die Planung – sollte der
Lissaboner Vertrag in Kraft treten. Dieser erlaubt den Ausbau der
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Europäischen
Verteidigungspolitik. Er erweitert die rechtliche Basis für eine
intensivere Zusammenarbeit der EU-Staaten deutlich. Die Stärkung der
sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU liegt traditionell im
französischen Interesse. Sarkozy bot das die Chance, der
Weiterentwicklung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik seinen Stempel
aufzudrücken. Er kann vorplanen, wie die EU, der Europäische Rat und die
anderen Institutionen all die neuen Rechte nutzen sollen, die der
Lissaboner Vertrag ihnen künftig zugesteht.
Frankreich begann deshalb schon vor Monaten, mit Großbritannien zu
sondieren, wie ein zweites St. Malo aussehen könnte. In St. Malo hatten
sich Paris und London 1998 auf Eckpunkte für die Umsetzung der ESVP
verständigt, deren Aufbau wenige Monate später am 1. Januar 1999 – mit
dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages – beginnen konnte. Heute
gilt es, die Eckpunkte für den Weg zu einer Europäischen
Verteidigungspolitik festzulegen, der beschritten werden kann, sobald der
Lissaboner Vertrag wirksam wird. Sowohl das meist proeuropäische Paris
als auch das traditionell europa-skeptische London müssen diese Eckpunkte
mittragen, wenn sie belastbar sein sollen. Es gilt herauszufinden, wie das
neue Instrument der strukturierten Zusammenarbeit – also die
regelmäßige Kooperation der Staaten der EU, die zu einer Vertiefung der
europäischen Sicherheits- und
Verteidigungszusammenarbeit bereit sind – wirksam genutzt werden
kann. Ziel muss es sein, der EU endlich glaubwürdige Fähigkeiten für
zivile und militärische Operationen des Krisenmanagements zu verschaffen.
Dazu gehört auch eine eigenständige europäische Planungs- und
Kommandostruktur, die den Rückgriff auf operative Hauptquartiere der
Mitgliedstaaten überflüssig macht. Eine politische Führung aus einer
Hand für Operationen des Krisenmanagements muss geschaffen werden. Dafür
muss auch die Arbeit des künftigen europäischen Außenministers
vorgedacht werden, den der Lissaboner Vertrag einführt.
Für die Arbeit an all diesen Fragen könnte ein zweites St Malo den
Startschuss darstellen.
Soll die französische EU-Präsidentschaft also dazu dienen, die EU
sicherheitspolitisch autonomer und unabhängig von der NATO zu machen?
Diese Befürchtung hegt traditionell Washington, das seinen Einfluss in
Europa über die NATO wahrt.
Sarkozy versuchte bereits früh, solche Bedenken einzuhegen. Kurz nach
seinem Amtsantritt verkündete er die Absicht, Frankreich in die
militärische Integration der NATO zurückzuführen. Die hatte Paris 1966
verlassen, weil sich Präsident de Gaulle mit den USA über die
NATO-Nuklearstrategie zerstritten hatte. Während des NATO-Gipfels in
Bukarest kündigte Sarkozy sogar an, Paris könne bereits zum
60.Geburtstag der Allianz, der im April 2009 in Straßburg und Kehl
gefeiert werden soll, Nägel mit Köpfen machen. Eine Initiative, die in
der französischen Innenpolitik auf viel Skepsis traf, teils sogar auf
offene Ablehnung.
Denn die Rückkehr in die militärische Integration würde bedeuten,
dass Frankreich wieder in der Nuklearen Planungsgruppe und bei der
gemeinsamen Verteidigungsplanung mitarbeitet. Im Nuklearbereich könnte
dies den anderen NATO-Mitgliedern die Möglichkeit geben, von Frankreich
nach mehr als 40 Jahren erstmals wieder detaillierte Rechenschaft über
die französische Nuklearpolitik einzufordern. Nicht jeder in Frankreich
findet das eine gute Idee. Auf noch tiefere Skepsis – vor allem im
französischen Rüstungsestablishment – aber trifft der Wiedereinstieg
in die gemeinsame Rüstungsplanung. In diese eingebunden, kann Frankreich
verpflichtet werden, spezifische Beiträge zu übernehmen. Es müsste
zudem darlegen, ob es diesen Verpflichtungen auch nachgekommen ist. In
beiden Fällen handelt es sich aus Sicht der französischen NATO-Skeptiker
um tiefe Eingriffe in die Souveränität und in nationale
Zuständigkeiten, die Frankreich viel Flexibilität bei der Verfolgung
seiner Interessen kosten könnten.
Sarkozy versuchte, die Wogen zu glätten. Im kürzlich
veröffentlichten Weißbuch zur französischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik verspricht er, die wichtigsten Grundprinzipien de
Gaulle’scher Politik beizubehalten: Frankreich werde die vollständige
Unabhängigkeit seiner Nuklearkräfte wahren. Es werde keinerlei
automatische militärische Verpflichtungen im Bündnis eingehen und seine
Lageanalysen weiterhin auf nationale Aufklärungsfähigkeiten stützen. Es
sei nicht vorgesehen, dem Bündnis dauerhaft französische Truppen zu
unterstellen.
Dem Argument, Sarkozy’s Politik könne dazu führen, dass die EU zum
Hilfsinstrument der NATO degradiert werde, hält das neue Weißbuch
entgegen, beide Institutionen könnten sich ergänzen und platziert die
ESVP immer wieder vor der NATO. Die atlantische Allianz erfülle die
Aufgabe kollektiver Verteidigung gegen größere Angriffe und müsse eine
Antwort auf die neue Bedrohungen finden, erklärt das Weißbuch. Die EU
dagegen verfüge als einzige Institution über die Möglichkeit, das ganze
Spektrum ziviler und militärischer Instrumente des Krisenmanagements zu
mobilisieren. Das unterscheide sie von der NATO, die vorrangig über ein
militärisches Instrumentarium verfüge.
Neu ist diese Doppelstrategie nicht. Schon Jacques Chirac, versuchte
sich Mitte der 90er Jahre an der Reintegration Frankreichs in die
militärischen Strukturen der NATO. Als aber deutlich wurde, dass
Frankreich dafür keine wesentlichen Gegenleistungen und nicht erheblich
mehr Einfluss bekommen werde, brach er seine Initiative ab. Frankreich
nahm danach zwar wieder an Sitzungen der NATO-Verteidigungsminister teil,
verweigerte aber die Mitarbeit in den Gremien, die der Allianz Einfluss
auf die französische Nuklear- und Rüstungsplanung gegeben hätten.
Chirac schwenkte damals um und setzte fortan auf die rasche Entwicklung
und den Ausbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Könnte es sein, dass Sarkozy sich Ähnliches offenhält? Frankreich
offeriert die volle Rückkehr in die NATO. Wenn aber der politische Preis
nicht stimmt und Frankreich im Bündnis nicht genug zusätzlichen Einfluss
bekommt, wird eben erneut umgeschwenkt und französische Initiativen zum
Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation in Europa erhalten Vorrang,
weil dies Paris mehr Einfluss garantiert? Schon möglich. Der Beifall der
NATO-Skeptiker in Paris wäre Sarkozy sicher.
Jüngst aber haben sich die Rahmenbedingungen für Sarkozy’s erste
EU-Präsidentschaft deutlich geändert. Nach dem irischen Nein zum
Lissaboner EU-Vertrag ist nicht mehr sicher, ob der neue EU-Vertrag im
Januar 2009 in Kraft treten kann. Damit ist plötzlich unklar, ob die
französische EU-Präsidentschaft die Umsetzung der erweiterten
rechtlichen Basis für die sicherheits- und verteidigungspolitische
Zusammenarbeit konzeptionell wirklich vorplanen kann. Vorrang hat nun die
Suche nach einem Ausweg nach dem Irischen Nein und den zu erwartenden
politischen Blockaden in weiteren Staaten. Bis ein solcher Ausweg gefunden
ist, sind die Chancen der französischen EU-Präsidentschaft begrenzt,
schon jetzt die Eckpunkte für die künftige Verteidigungspolitik
unwiderruflich festzulegen und für die nachfolgende EU-Präsidentschaft
vorzugeben.
Das neue Weißbuch hält Sarozy in Sachen NATO alle Wege offen. Ein
konkreter Termin für die Rückkehr Frankreichs in die NATO wird nicht
genannt. Der NATO-Gipfel in Strassburg soll nunmehr eine große Debatte
über die Reform des Bündnisses einläuten. In dieser soll die
strategische Partnerschaft Europas mit den USA neu bestimmt werden.
Gemeinsam soll festgelegt werden, welche Bedrohungen Aufgabe der NATO
seien. Die transatlantische Aufgabenteilung soll verbessert werden. Eine
Reform der Planungs- und Kommandostrukturen der NATO soll angestoßen
werden. Eine feste, dauerhafte Aufgabenteilung zwischen NATO und EU sei
dabei der falsche Ansatz, hält das Weißbuch fest. Denn man könne die EU
könne nicht auf die Rolle einer NATO-Agentur für ziviles
Krisenmanagement reduzieren. Das klang schon fast wieder wie bei Chirac.
Und doch nicht ganz. Denn Sarkozy müsste von seinen Ankündigungen in
Sachen NATO praktisch vollständig Abstand nehmen. Ein gesichtswahrender
Rückzugsschritt – wie Chiracs Entscheidung, wieder an den Sitzungen der
NATO-Verteidigungsminister teilzunehmen, stünde ihm nicht zur Verfügung.
Es bliebe ihm also nur der volle Rückzug oder die Flucht nach vorn: Er
macht seine Ankündigung hinsichtlich der NATO wahr, fordert aber, dass
die NATO dafür den Aufbau einer substantiellen zivil-militärischen
Führungsfähigkeit der EU parallel zu den Kommandostrukturen der NATO
akzeptiert. Diese könnte nach den gleichen Prinzipien wie
NATO-Fähigkeiten durch die EU genutzt werden können, also "Berlin
plus" Regeln unter umgekehrtem Vorzeichen, auch für Operationen der
NATO genutzt werden. Würde das durch die NATO akzeptiert, könnte Sarkozy
es in der EU als seinen Erfolg reklamieren, der Frankreich Anspruch mit
Recht auf zentrale künftige EU-Posten wie den des ersten
EU-Außenministers erheben ließe. Gelänge auch das, so hätte Sarkozy
erreicht, was er schon jetzt anstrebt und wahrscheinlich nicht erreichen
kann: Zentralen französischen Einfluss auf die Ausgestaltung der ESVP und
der EVP nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages. Vorausgesetzt, der
Vertrag scheitert nicht doch noch ganz.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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