Original Artikel
27. November 2012


Symbolpolitik und die Solidarität – Patriot-Raketen für die Türkei

von Otfried Nassauer


Nun also ist es offiziell: Die Türkei hat die NATO um die Stationierung von modernen Patriot-Luftverteidigungssystemen zur Raketenabwehr an der türkisch-syrischen Grenze gebeten. Deutschland, die Niederlande und die USA wollen dieser Bitte nachkommen. Das Bündnis hat grünes Licht signalisiert, sodass der endgültige NATO-Beschluss Anfang Dezember wohl nur noch Formsache ist. Für Thomas de Maiziere, den deutschen Verteidigungsminister, ist die deutsche Beteiligung eine Selbstverständlichkeit: „Deutschland war 45 Jahre der Hauptnutznießer von Bündnissolidarität. Wenn jetzt ein Bündnispartner uns um eine solche Maßnahme bittet, dann ist es für uns klar, dass wir dem offen und solidarisch gegenüberstehen.“

De Maiziere tritt den wichtigsten Bedenken entgegen: Nein, mit der Stationierung der Luftabwehrraketen gerate die NATO nicht auf eine abschüssige Bahn, auf der sie in den Bürgerkrieg in Syrien hineinrutschen könnte. Mit den Patriot-Einheiten werde keineswegs die Einrichtung einer Flugverbotszone über dem Norden Syriens vorbereitet; eine solche Nutzung werde sowohl in der türkischen Anfrage als auch in der Antwort der NATO sogar „schriftlich ausgeschlossen“. Den Grünen reicht das nicht. Sie wollen eine Begrenzung des Mandates auf Operationen auf türkischem Boden und im türkischen Luftraum, weil sie wohl zurecht befürchten, dass Flugzeug- oder Raketenabschüsse im syrischen Luftraum ebenfalls die Gefahr beinhalten könnten, dass die NATO eskalierend wirken könnte. Forderungen nach einem Bundestagsmandat für diesen Einsatz steht Verteidigungsminister de Maiziere aufgeschlossen gegenüber. Für die Patriots sei ein Mandat erforderlich und dieses werde im Bundestag beantragt, sobald die NATO ihren Beschluss gefasst habe. Der Bundestag dürfte dem Ansinnen mit großer Mehrheit zustimmen, da sowohl die SPD als auch Teile der Grünen den Einsatz wollen. Alles paletti, also?


Zwischenfälle an der Grenze

Keineswegs. Die türkische Bitte and die NATO wirkt eher politisch motiviert, denn militärisch notwendig oder sinnvoll. Die Türkei bittet spezifisch um die Fähigkeit, anfliegende Kurz- und Mittelstreckenraketen abschießen zu können. Ist aber mit einem syrischen Raketenbeschuss türkischen Territoriums überhaupt zu rechnen? Gibt es Gründe, anzunehmen, dass das Assad-Regime eine solche Option für sinnvoll halten könnte? Oder soll die Präsenz anderer NATO-Staaten, Syrien von einer Reaktion abhalten, wenn Ankara künftig auf einen absichtlichen oder irrtümlichen Beschuss mit anderen Waffen hart reagieren sollte?

Es stimmt, immer wieder gab es kleinere Zwischenfälle. Etliche türkische Siedlungen liegen in unmittelbarer Grenznähe. Dort sind wiederholt verirrte Mörsergranaten eingeschlagen, ein Geschoss aus einer syrischen Flugabwehrkanone hat ein türkisches Krankenhaus getroffen. Es gab einen Zwischenfall mit einem syrischen Kampfflugzeug. Und ein türkisches Aufklärungsflugzeuge wurde bei einem ungeklärten Zwischenfall durch syrische Luftabwehrkanonen abgeschossen. Ja, es gab bereits einige Tote, unbeteiligte Zivilisten auf türkischer Seite. Da syrische Oppositionelle das Grenzgebiet zur Türkei nutzen, kam es dort immer wieder zu Gefechten mit regimetreuen Kräfte. Auch Geschosse der Regimegegner sollen bereits auf türkischer Seite eingeschlagen sein. Wollen sie ein Eingreifen der Türkei provozieren? Ankara hat seine militärische Präsenz in der Region mittlerweile deutlich verstärkt, gepanzerte Fahrzeuge sind näher an die Grenze verlegt worden, die Rhetorik gegen Damaskus wurde deutlich verschärft.


Zwei mal Patriot und wenig nachvollziehbare Logik

Und nun also Patriot-Raketen aus anderen NATO-Staaten? Es ist nicht klar, was diese bezwecken sollen. Mit dem Luftverteidigungssystem Patriot können Raketen, Marschflugkörper oder Flugzeuge vom Himmel geholt, aber keine Mörsergranaten oder Flugabwehrgeschosse. Zwei unterschiedliche Versionen lagern in den Depots, auch bei der Bundeswehr: Patriot-Raketen des Typs PAC-2 und solche des Typs PAC-3. Sie unterscheiden sich deutlich. Die ältere PAC-2 ist eine weitreichende Flugabwehrrakete mit limitierten Fähigkeiten, auch Raketen abzuschießen. Vier dieser 900 kg schweren Geschosse finden auf einem Startgerät Platz. Ihre Ziele können sie in bis zu 160 km Entfernung treffen. Die neueren PAC-3 Flugkörper haben nur etwa ein Drittel des Gewichts der PAC-2, sind deutlich schlanker und manövrierfähiger. Sie können Ziele in Entfernungen von bis zu 15-60 km bekämpfen. Dazu gehören vor allem Raketen mit einigen Hundert Kilometern Reichweite wie die syrischen SCUD B, die teilweise leistungsgesteigert wurden. Die Patriot PAC-3 offeriert die Bundeswehr auch als deutschen Beitrag zu dem im Aufbau befindlichen Raketenabwehrsystem der NATO. Ein Werferfahrzeug mit diesen Flugkörpern trägt zwei Container mit je vier Flugkörpern. Mehr kann das Werferfahrzeug nicht tragen, weil sonst das zulässige Gesamtgewicht überschritten würde. Eine gemischte Beladung der Werfer mit Raketen der Typen PAC-2 und PAC-3 ist technisch nicht möglich.

In die Türkei will die Bundeswehr voraussichtlich zwei Patriot-Staffeln (Batterien) mit entsenden. Zusammen mit der Logistik und den notwendigen Führungssystemen sind das nicht 170 Soldaten, wie zumeist gemeldet, sondern eher 250 oder mehr. Eine Staffel verfügt in der Regel über acht Werferfahrzeuge. Bei einheitlicher Standardbeladung wären also entweder 32 Flugkörper vom Typ PAC-2 oder 64 Flugkörper des Typs PAC-3 erforderlich. Da die Bundeswehr sich bisher aus Kostengründen nur 24 Flugkörper des Typs PAC-3 (für 79,6 Millionen Dollar) leisten konnte, kann sie keine ihrer insgesamt 24 Patriot-Staffeln, von denen 12 modernisiert  werden, weil sie auch künftig Teil der Bundeswehrstruktur bleiben sollen, vollständig mit dem neuen Flugkörper ausrüsten. Für maximal drei Werfer reicht der vorhandene Munitionsvorrat. Deshalb und weil sie ursprünglich 72 der moderneren Flugkörper kaufen wollte, spricht die Luftwaffe auch nur von einer „Anfangsbefähigung“, die seit 2010 vorhanden sei.

In die Türkei soll eine bislang unbekannte Zahl von Patriot-Staffeln verlegt werden. Berichten zufolge wünscht sich Ankara 15 Staffeln zum Schutz seiner 900 Kilometer langen Grenze zu Syrien. Seitens der NATO-Länder ist lediglich von einer Bereitschaft zur Entsendung von fünf Staffeln Patriot die Rede: Zwei der USA, eine aus den Niederlanden und zwei aus Deutschland. Die Führung soll aus Ramstein erfolgen, wo die NATO ein geeignetes Hauptquartier unterhält. Bei der Bundeswehr ist das Flugabwehrraketengeschwader 1 in Husum für den Einsatz vorgesehen. Dieses Geschwader verfügt am Standort Bad Sülze bereits über die Patriot PAC-3. Derzeit sind die deutschen PAC-3-Raketen der schnellen Eingreiftruppe der NATO, der NATO Response Force zugeordnet. Trotzdem muss der Beitrag der Europäer zu eher symbolisch ausfallen, denn nicht nur die Bundeswehr hat nur wenige Flugkörper vom Typ PAC-3, auch die Niederlande haben bislang nur 32 dieser teuren Flugkörper gekauft.

Deutsche und Holländer können deshalb die Mehrzahl ihrer Patriot-Werfer nur mit den älteren Flugkörpern vom Typ Patriot PAC-2 bestücken. Davon liegen genug im Depot. Diese mitzunehmen, macht auch Sinn. Innerhalb einer Batterie können Werfer mit den Versionen PAC-2 und PAC–3 gemischt zum Einsatz kommen. Es ist also möglich, jeweils zu wählen, ob das anfliegende Ziel besser mit einer billigeren PAC-2 Rakete oder mit teuren PAC-3-Variante bekämpft werden soll. Zudem kann gegen Flugzeugziele dann auch die größere Reichweite der älteren Version genutzt werden.

Die unterschiedlichen Bekämpfungsreichweiten der beiden Flugkörpervarianten lassen zugleich deutlich werden, dass es eine Illusion wäre, zu glauben, über die konkreten Aufstellungsorte der Werfer könne man gesichert ausschließen, dass die Patriot-Raketen ihre Ziele bereits über syrischem Territorium abschießen. Um einen Schutz des türkischen Grenzgebietes gegen Raketenangriffe zu ermöglichen müssen die Werfer so nahe an der Grenze stationiert werden, dass die PAC-3-Raketen eingesetzt werden können. Die PAC-2-Flugkörper der gleichen Batterie können dann aber automatisch auch noch rund 100km in den syrischen Luftraum, wirken. Schon um zu verhindern, dass bei einem Abschuss Trümmer auf türkischen Boden fallen, würde dieser wahrscheinlich im syrischen Luftraum erfolgen.


AWACS oder „Da war doch noch was“

In dem türkischen Schreiben, mit dem die NATO um Unterstützung gebeten wird, heißt es:

“The deployment will be undertaken within the framework of the NATO Integrated Air Defense System (NATINADS) to preserve, protect and enhance the ability to defend the population and territory of Turkey in according with the Standing Defense Plan “Active Fence”. It will thus be supported by sensors and situational awareness assets routinely available to SACEUR under his standing authority.”

Der letzte Satz ist verräterisch. Denn die Sensoren und Mittel zur Lagebilderstellung, die dem Oberbefehlshaber der NATO zur Umsetzung des Ständigen Verteidigungsplans „Active Fence“ zur Verfügung stehen, umfassen auch die AWACS-Flugzeuge der NATO. Diese in Geilenkirchen beheimateten Flugzeuge operieren regelmäßig auch von vorgeschobenen Flugplätzen an der Südflanke der NATO: Aktion in Griechenland, Trapani in Italien und Konya in der Türkei, so heißen die dortigen Einsatzflugplätze. Ähnlich wie während des Irak-Krieges 2003 und der Libyen-Krise 2011 können sie genutzt werden, um den Luftraum Syriens in einigen Hundert Kilometern Tiefe unter ständiger Beobachtung zu halten oder auch Feuerleitaufgaben im Rahmen der NATO- Luftverteidigung zu übernehmen. Über Funk ist eine direkte Verbindung zwischen den Patriot-Abwehrraketen und den AWACS-Flugzeugen möglich.

„Generalleutnant Dora hat dem Senat in der mündlichen Verhandlung darüber Auskunft gegeben, wie die AWACS-Flugzeuge in entsprechende gewaltsame Abwehrreaktionen eingebunden gewesen wären: Danach übernimmt das Aufklärungsflugzeug die Funktion eines in besonderer Flughöhe befindlichen Radarsensors („Auge“), der mit dem Bodengefechtsstand über Funk verbunden ist und in dessen Auftrag bestimmte Aufklärungsaufgaben übernehmen kann. Im Fall eines bewaffneten Angriffs kann und soll das AWACS-Flugzeug die Aufklärungsergebnisse zum Zweck von Abwehrreaktionen weitergeben, sowohl – im Fall eines Raketenangriffs – an die PATRIOT-Bodenluftraketen als auch – im Fall sich nähernder Kampfflugzeuge – an den Bodengefechtsstand. In diesem Fall ist das AWACS-Flugzeug in der Lage, eine Feuerleitführung für aufsteigende Jagdflugzeuge zu übernehmen, welche dann die unmittelbare militärische Abwehrreaktion ausführen; dies ist, wie Generalleutnant Dora betont hat, auch ein Sinn der integrierten NATO-Luftverteidigung. Aus militärischer Sicht ist dabei zu unterscheiden zwischen der regelmäßigen Befehlsgewalt der Bodenleitstelle und besonderen Situationen, in denen die Kommandogewalt für die einzelnen Einsätze und dann auch eine direkte Gefechtsleitfunktion an Bord der AWACS-Flugzeuge selbst ausgeübt wird.“ ( Bundesverfassungsgericht: Leitsatz zum Urteil des Zweiten Senats vom 7. Mai 2008, 2 BvE 1/03 http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20080507_2bve000103.html)

Ein knappes Drittel der Soldaten des AWACS-Verbandes sind Deutsche, die im Falle eines Türkeieinsatzes an einer militärischen Unternehmung beteiligt wären, für die das Parlamentsbeteiligungsgesetz ein Mandat des Bundestages erfordern könnte. Ob seitens des BMVg ein Bundestagsmandat für den AWACS-Einsatz vorgesehen ist, ist noch nicht bekannt. Das Ministerium wird sehr genau prüfen müssen, ob das „AWACS-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 2008 ein solches nicht vorschreibt. Es sieht danach aus. Das Gericht urteilte damals über den AWACS-Einsatz in der Türkei während des Irak-Krieges 2003. Es hielt ein Mandat für geboten und warf der damaligen rot-grünen Bundesregierung vor, die Rechte des Parlamentes verfassungswidrig beschnitten zu haben.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes impliziert jedoch auch, dass der Bundestag damit in eine Zwickmühle gerät: Er kann einen Mandatsantrag der Bundesregierung nach den Regeln des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur in Gänze annehmen oder ablehnen. Ist der AWACS-Einsatz Teil des beantragten Mandats, so kann die Bundesregierung den Bundestag damit recht gut zu einer Zustimmung auch zu allen anderen, umstrittenen Teilen eines Mandates nötigen. Bereits in den Verhandlungen vor dem Verfassungsgericht und anlässlich des AWACS-Einsatzes der NATO während des Libyen-Krieges wurde deutlich: Ohne die deutschen Soldaten in den AWACS-Flugzeugen geht kaum etwas; ein „Nein“ des Bundestags kann bedeuten, dass ein getroffener Einsatz-Beschluss der NATO, weil nicht mehr durchführbar, wieder abgesagt werden müsste.


Solidarität und Symbolik

Verteidigungsminister de Maiziere betont zwar, bei dem Einsatz in der Türkei gehe es um die Solidarität mit einem potentiell bedrohten NATO-Partner. Die Bedrohung und deren Glaubwürdigkeit konkret zu belegen, dürfte ihm aber schwer fallen. Es sind wohl eher fünf Hauptmotive, die zu der deutschen Unterstützung führen werden:

  • die präventive Abwehr des Argumentes, Deutschland zeige im Bündnis erneut – wie im Falle Libyens - zu wenig Solidarität;
  • das Bemühen, die Reaktionen der Türkei auf die zugespitzte Lage in Syrien im Bündnis einhegen zu können;
  • diejenigen zu widerlegen, die einen Bedeutungsverlust der kollektiven Verteidigung in der NATO beklagen;
  • die Hoffnung, durch eine Beteiligung an diesem vergleichsweise risikoarmen und kostengünstigen Einsatz könne der Bundeswehr ggf. die Beteiligung an künftig anstehenden riskanteren Einsatz erspart bleiben; und
  • das immer wiederkehrende Motiv des „Mitmachens um mitreden und –entscheiden zu können.“

Dem letzten Motiv könnte auch deshalb eine entscheidende Bedeutung zukommen, weil die NATO bei ihrem Gipfel in Chicago die Raketenverteidigung zu einer der zentralen strategischen Aufgaben des Bündnisses und seiner Abschreckung gemacht hat und diese damit in eine Reihe mit der Fähigkeit zur Nuklearabschreckung gestellt hat. Mit dem Türkei-Einsatz kann also die Fähigkeit und die Bereitschaft Deutschlands zu einer Beteiligung an dieser strategischen Daueraufgabe mit den heute vorhandenen begrenzten Mitteln unter Beweis gestellt werden. Unter Verweis auf die sich in der Türkei zeigende Bedeutung der Raketenabwehr an den Rändern des Bündnisses kann möglicherweise auch vermieden werden, dass Deutschland schon bald unter Druck gerät, sich weit teurere, zusätzliche Fähigkeiten zur Raketenabwehr in den USA einzukaufen.

Militärisch wohl eher recht bedeutungslos, aber von Eskalationsrisiken begleitet, politisch eher von symbolischer oder taktischer Bedeutung – der Türkeieinsatz der NATO spiegelt die innere Lage des Bündnisses: Es kämpft um den Erhalt seiner Bedeutung, weist aber weiterhin deutliche Anzeichen strategischer Orientierungslosigkeit auf.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS